Deutscher Gewerkschaftsbund

14.02.2020

Die soziale Schieflage der Mitte

Soziale Ungleichheit wird vor allem mit Blick auf die Unterschicht diskutiert. Das greift zu kurz. Abstiegsängste und soziale Sorgen haben längst auch die Arbeiter*innen und Angestellten der Mittelschicht. Nur wenn wir deren Wohlergehen sichern, können wir unsere Demokratien gegen die Bedrohung durch soziale Unruhen, Rassismus und Rechtspopulisten verteidigen.

 

Von Dani Rodrik

Eine leere Fabrikhalle mit einem Glasdach in der Mitte.

Die Industrie verschwindet in manchen Gegenden und mit ihr die Jobs, während anderenorts neue Produktionsstätten mit neuen Technologien entstehen. Dieser Übergang ängstigt und verunsichert viele. DGB/Olivér Svéd/123rf.com

Die soziale Ungleichheit steht heute so dringlich auf der Tagesordnung der politischen Entscheidungsträger wie lange nicht mehr. Denn die Kritik an der etablierten Wirtschaftsordnung hat den Aufstieg populistischer Bewegungen und große Straßenproteste von Chile bis Frankreich beflügelt. Während sich Ökonomen früher über die negativen Auswirkungen einer egalitären Politik auf Marktanreize oder das fiskalische Gleichgewicht geärgert haben, befürchten sie nun, dass zu viel Ungleichheit monopolistisches Verhalten fördert und technischen Fortschritt wie Wirtschaftswachstum untergräbt.

Es fehlt nicht an Ideen, die soziale Ungleicheit verringern würden

Die gute Nachricht ist: Es mangelt nicht an politischen Instrumenten, mit denen wir auf die zunehmende Ungleichheit reagieren können. Auf einer Konferenz, die der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Olivier Blanchard und ich im vergangenen Jahr organisiert haben, hat eine Gruppe von Ökonomen eine breite Palette von Vorschlägen unterbreitet, die alle drei Dimensionen der wirtschaftlichen Produktion abdecken.

Wichtige Interventionen sind im Vorfeld der Produktion bei der Bildungs-, Gesundheits- und Finanzpolitik möglich. Außerdem können die Steuer- und Transferpolitiken reformiert werden, so dass die Markteinkommen stärker umverteilt werden.

Politik mit Blick auf die Produktion muss direkt auf die Beschäftigungs-, Investitions- und Innovationsentscheidungen der Unternehmen zielen. Beispiele hierfür sind Mindestlöhne, Regeln für Arbeitsbeziehungen, beschäftigungsfreundliche Innovationspolitik, standortbezogene Politik und andere Arten von Industriepolitik sowie die Durchsetzung von Kartellvorschriften.

Demonstrationszug, der sich eine lange gerade Sraße entlangstreckt.

An vielen Orten, so wie hier in Chile, wird gegen soziale Ungleichheit und die Folgen des Neoliberalismus protestiert. DGB/cameramemories/Flickr/CC BY 2.0

Als positiv bewährt haben sich einige Ideen wie die Förderung von benachteiligten Kindern, Programme zur Fortbildung von Arbeitskräften und die öffentliche Finanzierung der Hochschulbildung. Andere Vorschläge wie die Einführung einer Vermögenssteuer sind nach wie vor umstritten, zumal die Frage ungeklärt ist, wie sie effektiv umgesetzt werden können. Dennoch herrscht zunehmend Einigkeit darüber, dass ein gewisses Maß an politischen Experimenten wünschenswert und notwendig ist.

Die klassischen Indikatoren für Ungleichheit helfen oft nicht weiter

Eine grundlegende Frage jedoch hat relativ wenig Aufmerksamkeit erhalten: Gegen welche Art von Ungleichheit sollen diese Maßnahmen gerichtet werden? Eine Politik zur Bekämpfung der Ungleichheit konzentriert sich in der Regel darauf, entweder Einkommen an der Spitze zu schmälern, indem man sie progressiv besteuert, oder die Einkommen der Armen zu erhöhen, indem man Familien unterhalb der Armutsgrenze Zuschüsse gewährt.

Eine solche Politik sollte jedoch ausgeweitet werden, vor allem in Ländern wie den Vereinigten Staaten, wo die bestehenden Regelungen bei weitem nicht ausreichen. Doch die heutige Ungleichheit erfordert auch einen anderen Ansatz, der auf die Mitte der Gesellschaft zielt, in der mittlerweile große wirtschaftliche Unsicherheiten und Abstiegsängste herrschen. Unsere Demokratien können die Bedrohung durch soziale Unruhen, Rassismus und Autoritarismus nur bekämpfen, indem sie das wirtschaftliche Wohlergehen der Arbeiter*innen der mittleren und unteren Mittelschicht fördern und ihnen helfen, ihren sozialen Status zu bewahren.

Wie nötig das ist, zeigt sich schon daran, dass die herkömmlichen Indikatoren für Ungleichheit nicht ausreichend erkennen lassen, wie wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit in Demokratien entsteht. In Frankreich zum Beispiel hat die extreme Rechte große Fortschritte gemacht; die sozialen Proteste der Gelbwesten waren allgegenwärtig. Dennoch hat die Ungleichheit gemessen am Gini-Koeffizienten oder am Anteil von Spitzeneinkommen im Gegensatz zu den meisten anderen reichen Demokratien nicht wesentlich zugenommen. Ebenso protestieren in Chile immer mehr Menschen gegen soziale Ungleichheit, obwohl sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Einkommensunterschiede erheblich verringert haben. Und: Donald Trump gewann im Jahr 2016 die entscheidenden Stimmen nicht in den ärmsten Staaten, sondern in jenen, in denen die Schaffung von Arbeitsplätzen hinter dem Rest des Landes zurückblieb.

Große runde Tische mit weißen Tischdecken und teuerem Geschirr stehen in einem prächtigen Raum mit Kronleuchtern. An den Tischen sitzen Damen in Abendroben und Männer in Smokings.

Von der Globalisierung profitieren vor allem die Reichen und Mächtigen. Sie haben bislang immer noch allen Grund zum Feiern, so wie hier im Weißen Haus als Gast des korrupten US-Präsidenten Donald Trump. DGB/Weißes Haus/Andrea Hanks/Gemeinfrei

Die Unzufriedenheit ist eindeutig auf Ungleichheit anderer Art zurückzuführen. Ein wesentlicher Teil des Problems ist das Verschwinden und die relative Knappheit von guten, stabilen Arbeitsplätzen. Die De-Industrialisierung hat viele Produktionszentren vernichtet. Schwerwiegende Konsequenzen hatten technologische Neuerungen. Millionen von Produktions-, Büro- und Verkaufsjobs wurden wegrationalisiert. Der Niedergang der Gewerkschaften und eine Politik, die Arbeitsmärkte "flexibilisiert", haben zudem zur Prekarisierung der Beschäftigten beigetragen. Dieser Prozess wird obendrein durch die wirtschaftliche Globalisierung und die Konkurrenz von Ländern wie China verschärft.

Die Eliten sind an globale Netzwerke angeschlossen und sehr mobil

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der in klassischen Untersuchungen von Ungleichheit keine große Rolle spielt: die zunehmende geographische, soziale und kulturelle Trennung zwischen großen Teilen der Arbeiterklasse und den Eliten. Sie spiegelt sich am unmittelbarsten wider in der räumlichen Segmentierung zwischen wohlhabenden, kosmopolitischen städtischen Zentren und rückständigen ländlichen Gemeinden, kleineren Städten und städtischen Randgebieten.

Diese räumliche Kluft verstärkt die ohnehin vorhandene soziale Spaltung. Die professionellen Eliten in den Metropolen sind an globale Netzwerke angeschlossen und sehr mobil. Dadurch wird ihr Einfluss auf die Regierungen umso stärker, während sie sich gleichzeitig von den Werten und Prioritäten ihrer weniger glücklichen Landsleute distanzieren. Diese entfremden sich von einem wirtschaftspolitischen System, das für sie offensichtlich weder funktioniert noch sich um sie kümmert. Die Ungleichheit manifestiert sich in einem tief empfundenen Verlust von Würde und sozialem Status auf Seiten der weniger gebildeten Arbeiter und anderer "Außenseiter".

Ökonomen erkennen zunehmend, dass diese Polarisierung der Gesellschaft nur dann wirkungsvoll bekämpft werden kann, wenn die Fähigkeit der Wirtschaft zur Schaffung guter Arbeitsplätze wiederbelebt wird. An Ideen mangelt es nicht. Arbeitsmarktinstitutionen und Welthandelsregeln müssen reformiert werden, um die Verhandlungsmacht der Arbeit gegenüber den global mobilen Arbeitgebern zu stärken. Die Konzerne selbst müssen größere Verantwortung für ihre lokalen Gemeinschaften, Arbeitgeber und Zulieferer übernehmen. Die staatliche Unterstützung von Innovationen muss ausdrücklich auf Technologien ausgerichtet sein, die beschäftigungsfreundlich sind. Wir können uns ein völlig neues Regime der öffentlich-privaten Zusammenarbeit im Dienste des Aufbaus einer Wirtschaft mit guten Arbeitsplätzen vorstellen.

Viele dieser Ideen sind noch nicht ausprobiert worden. Aber neue Herausforderungen erfordern neue Maßnahmen. Wir müssen mutig und einfallsreich eine integrative Volkswirtschaft schaffen. Tun wir das nicht, werden sich auch künftig die alten unsozialen Ideen durchsetzen – wovon letztlich die rechten Populisten profitieren.

 


Aus dem Englischen von Daniel Haufler / © Project Syndicate, 2020


Nach oben

Kurzprofil

Dani Rodrik
lehrt als Professor für International Political Economy an der John F. Kennedy School of Government der Harvard Universität.
» Zum Kurzprofil

Gegenblende Podcast

Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

Unsere Podcast-Reihen abonnieren und hören.