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Der Erfolg des Front National (FN) bei den Regionalwahlen im vergangenen Dezember sorgte nicht nur in Frankreich für große Aufregung. Viele haben sich gefragt, wer die rechtsextreme Partei, die im ersten Wahlgang auf 28,4 Prozent kam, gewählt hat? Bis man eine Antwort fand, musste erstmal eine noch größere Katastrophe verhindert werden. Deshalb riefen vor dem zweiten Wahlgang verschiedene französische Parteien, Verbände und Initiativen die Bevölkerung dazu auf, dem FN nicht ihre Stimme zu geben, mit Erfolg. Auch fünf große Gewerkschaftsverbände waren unter ihnen und forderten, „gegen den Front National zu stimmen“. Es handelte sich um die CGT, die CFDT und den christlichen Gewerkschaftsbund CFTC. Auch die häufig eher unpolitische UNSA sowie der Zusammenschluss der Bildungsgewerkschaften im FSU waren dabei. Zudem unterstützte die Union syndicale Solidaires, ein Zusammenschluss linksalternativer Basisgewerkschaften (SUD), die Aufrufe.
Die französischen Gewerkschaften sind sich ihrer Verantwortung bewußt, denn längst wählen Teile ihres Klientels die Le Pen-Partei. Dieses Phänomen bestätigte eine Umfrage, die im Dezember 2015 zum Zusammenhang von gewerkschaftlicher Orientierung und Stimmverhalten durchgeführt wurde. Die Datenerhebung hatte zwar ihre Mängel, denn sie beruhte wie vorangegangene Erhebungen gleichen Typs auf subjektiven Einschätzungen und Sympathiebekundungen und weniger auf objektiven Faktoren, wie Mitgliedschaften. Dennoch sind solche Befragungen relevant, da sie sich im langjährigen Trend vergleichen lassen und politische Tendenzen sichtbar machen. Schon seit zwanzig Jahren ist das soziale Umfeld der französischen Gewerkschaften von einem Trend zum Rechtswählen geprägt. Die Mitglieder des drittgrößten Gewerkschaftsdachverbandes Force Ouvrière – FO, ungefähr „Arbeiterkraft“ -, liegen dabei deutlich in Führung. Das hat mit seiner Geschichte zu tun: Der Dachverband FO hat sich 1948 von der CGT abgespalten und galt im Kalten Krieg schlicht als „antikommunistisch“. Die im FO vereinten Strömungen aus der alten CGT waren aber politisch derartig unterschiedlich ausgerichtet, dass sich die Organsation bis heute als „politisch neutral“ darstellt. Das hält sie davon ab, Aufrufe und Erklärungen gegen das Erstarken der extremen Rechten abzugeben. In Umfragen lagen schon 1995 die FO-Sympathisanten mit 19 Prozent Zustimmung für den FN unter den Wählern aus den Gewerkschaften deutlich vorn. Im Dezember 2015 stieg dieser Anteil auf 34 Prozent.
Das wirklich Neue dabei ist, das seit den Europaparlamentswahlen im Mai 2014 in Frankreich die Wahlentscheidung für die extreme Rechte auch bei erklärten Sympathisanten der anderen Gewerkschaften stark angewachsen ist. Bei den CGT-Sympathisanten waren es im Dezember 2015 etwa 29 Prozent. Bei den abhängig Beschäftigten, die sich „mit keiner Gewerkschaft“ auch nur vage identifizieren möchten, sind es derselben Umfrage zufolge 33 Prozent.
Diese politische Verschiebung im sozialen Umfeld der Gewerkschaften hat mehrere Gründe. Eine Ursache ist das politische Vakuum, das vor allem die französische Sozialdemokratie in Teilen der Gesellschaft hinterlassen hat. Deren kapitalfreundliche Politik seit der Regierungsübernahme 2012, die mit dem „Pakt der Verantwortung“ von Anfang 2014 verschärft wurde, verunsichert ihre Kernklientel der abhängig Beschäftigten. Auch die Gewerkschaften sind dabei gespalten - die CFDT bleibt relativ regierungsfreundlich, während etwa die CGT, die FSU und die Union syndicale Solidaires eher regierungskritisch sind -, was eine Bündelung ihrer Kräfte oft verhindert. Der zweite Grund liegt darin, dass sich das Publikum der extremen Rechten verändert hat. In den 1980er Jahren war der Front National noch eine agressiv neoliberale Partei, die als ihre wirtschaftspolitischen Vorbilder explizit Ronald Reagan und Margaret Thatcher bennante. Das ist nun vorbei, denn in den frühen Neunziger Jahren vollführte die Parteiführung einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Ihre neue Strategie kombiniert soziale Demagogie mit klassischem Etatismus und einer Kampfansage an die Globalisierung. Der Hintergrund für diese Wendung ist die Erwartung, dass nach dem Fall der Berliner Mauer die extreme Rechte die einzige Alternative für eine Systemopposition darstelle. Im Laufe der Jahre hat dieser Diskurs zu einem Austausch der Wählerschichten geführt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person für den FN stimmt, wächst umgekehrt proportional zum Einkommen sowie zum Bildungsgrad. Wie schon bei anderen Wahlen in den letzten 25 Jahren weist der Front National auch bei denen im Dezember 2015 einen „Unterklassenbauch“ auf.
Laut dem Institut OpinionWay stimmten 14 Prozent der höheren Angestellten für den FN, jedoch 55 Prozent aus der Arbeiterschaft. Beim Institut Ipsos wiederum beträgt der Anteil der FN-Stimmen aus der Arbeiterschaft 43 Prozent. Auch die Nicht-Wähler sind in der Arbeiterschaft stark vertreten. Bei OpinionWay enthielten sich in dieser Gruppe 51 Prozent der Stimme, laut Ipsos hingegen 61 Prozent. Aber auch 29 Prozent der Unternehmer und Selbständigen votierten laut Ipsos für den FN. Von den Befragten mit Hochschulabschluss stimmten derselben Befragung zufolge 14 Prozent für den FN, bei denen mit Abitur 33 Prozent, unter denjenigen ohne Abitur hingegen 45 Prozent. Allerdings gibt es auch in anderen sozialen Schichten Neuerungen. Denn die Stimmabgabe für den FN nimmt zugleich in manchen bürgerlichen Wohnvierteln zu, wie erstmals bei den Regionalparlamentswahlen 2010 zu beobachten war und sich bei denen von 2015 bestätigte.
Der Pariser Raum ist zwar ein schwieriges Pflaster für den FN, da die ethnisch sehr gemischte Zusammensetzung der Bevölkerung in Kombination mit hohen Lebenshaltungskosten zu einer regelrechten Stadtflucht der rechtsorientierten Wähler geführt hat. Letztere leben bevorzugt in Reihenhaussiedlungen außerhalb des überteuerten Stadtraums und in Distanz zu den von Migration geprägten Trabantenstädten. Deswegen erhielt der FN im Großraum Paris im Dezember 2015 mit 18,4 Prozent ein unterdurchschnittliches Resultat. In der Hauptstadt selbst lag es mit 9,7 Prozent noch erheblich darunter.
Außerdem ist es auffallend, dass etwa in der von Schwerreichen geschätzten Vorstadt Fontainebleau die FN-Liste mit 18,3 Prozent überraschend ihren regionalen Durchschnitt erreichte. Das Ergebnis konnte erreicht werden, obwohl an diesem Ort ferner auch 9,0 Prozent für den nationalkonservativen EU-Gegner Nicolas Dupont-Aignan gestimmt haben. Und auch in der Pariser Innenstadt lagen die Ergebnisse der Partei in großbürgerlichen Vierteln, wie dem 8. und dem 16. Bezirk (mit 10,5 respektive 10,6 Prozent), leicht über dem Stadtergebnis. Das ist ein im Vergleich zu früheren Jahren eher ungewohntes Phänomen. Offensichtlich entwickelt sich also an den konservativen Rändern auch eine Sympathie für den Front National, zumindest auf einem bestimmten Flügel der einkommensstarken, bürgerlichen Wähler.
Die Gewerkschaften werden durch den Erfolg der extremen Rechten vor starke Herausforderungen gestellt. Seit einem landesweiten Treffen im Pariser Gewerkschaftshaus am 29. Januar 2014 führen die CGT, die FSU, die Union Syndicale Solidaires sowie mehrere Jugend-, SchülerInnen- und Studierendenverbände eine gemeinsame Kampagne gegen "die extreme Rechte, ihre Ideologie und ihre Praktiken" durch. Folgeveranstaltungen zu der landesweiten Kampagne fanden in mehreren rechtsextrem regierten Städten statt, so am 06. Mai 2015 in Béziers und am 02. Oktober vergangenen Jahres in Hayange in Lothringen, um damit auch lokale Gewerkschaftsgliederungen zu unterstützen. Schulungsmaterialien für die Mitglieder und Fortbildungsveranstaltungen begleiten ihre Bemühungen, die eigene Mitgliedschaft mit Argumenten von der "Versuchung" des Rechtswählens abzubringen. Auch die CFDT, die nicht an dieser gemeinsamen Kampagne teilnimmt, veröffentlicht wiederholt Materialien zu diesen Themen.
Das größte strategische Problem für den FN, wie auch für andere europäische Rechtspopulisten, sind die fehlenden Bündnispartner. Aus genau diesem Grund konnte sie sich auch im zweiten Wahlgang im Dezember 2015 nicht durchsetzen. Ein Bündnis mit Teilen der konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten ist zwar nicht ausgeschlossen, jedoch würde sie damit ihre heute betonte soziale Demagogie gegenüber abhängig Beschäftigten und sozialen Unterklassen aufgeben müssen. In dieser Hinsicht hat der Front National die notwendige Quadratur des Kreises bislang nicht geschafft. Und dies ist im Augenblick die einzige Beruhigung.
DGB/Heiko Sakurai
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