Vor 100 Jahren wurde die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gegründet. Sie sollte helfen, den Weltfrieden zu sichern, indem die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen verbessert werden, zumindest in den westlichen Industriestaaten. Für die Kolonien galt das noch lange nicht. Und auch Frauen hatten es anfangs in der ILO nicht leicht.
Von Birte Förster
Auf dem Foto durften Frauen dabei sein, als Delegierte beim ILO-Gründungskongress waren sie nicht zugelassen. ILO
Auch bei der Pariser Friedenskonferenz im Jahr 1919 ging wieder einmal ein Gespenst um: das Gespenst einer bolschewistischen Revolution, die sich in ganz Europa ausbreitet. Umstürze in Mitteleuropa, Arbeitskämpfe in fast allen Staaten des Kontinents und der Spartakusaufstand in Berlin waren eines der zentralen Motive für den britischen Premier David Lloyd George, auf die Gründung einer Internationalen Arbeiterorganisation (International Labour Organisation/ILO) zu drängen. Am 25. Januar 1919 wurde in Paris neben der Völkerbundkommission deshalb noch ein weiteres, ungewöhnlich besetztes Gremium aus der Taufe gehoben. In ihm saßen neben Regierungsexperten auch Arbeitervertreter und einige wenige Unternehmer. Diese trilaterale Verfassung war ein Novum, sie sollte eine Frontstellung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern verhindern und wirkte in der Tat wegweisend für die Struktur der neuen Organisation.
Mit der Kommission und der Gründung der ILO wurde eine langjährige Forderung der Arbeiterbewegung erfüllt, nämlich die Aussicht auf weltweit geltende arbeitsrechtliche Standards und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen. Den Vorsitz der Kommission führten nicht von ungefähr die Gewerkschafter Samuel Gompers aus den USA und der Brite George Barnes. Erstmals wurden Arbeitgeber international in die Pflicht genommen, um einen höheren Lebensstandard für Arbeiterinnen und Arbeiter durch rechtliche und soziale Normen zu ermöglichen. Der belgische Sozialdemokrat Emil Vandervelde, seit Herbst 1918 Justizminister seines Landes und Mitglied der Kommission, sorgte dafür, dass in der Präambel der ILO soziale Gerechtigkeit als Ziel aller Beteiligten definiert wurde.
Am 11. April 1919 nahm die Vollversammlung der Friedenskonferenz den Vorschlag für die ILO an. In Teil XIII des Vertrags von Versailles wurde sie mit der Unterzeichnung am 28. Juni 1919 verankert, "geleitet sowohl von den Gefühlen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit als auch von dem Wunsche, einen dauernden Weltfrieden zu sichern" – wie es in der Präambel heißt. Doch die Beweggründe für die Gründung dieses neuen Gremiums waren nicht allein humanitärer Art. Britische Konservative sahen in der Ausbreitung internationaler arbeitsrechtlicher Standards auch einen Wettbewerbsvorteil für die eigene Industrie. Die Pariser Kommission bot den bürgerlichen Politikern des Landes zudem die Gelegenheit, sich für einen relativ geringen Preis auf der internationalen Bühne als Sozialreformer feiern zu lassen.
Stolz lassen sich die Gründungsdelegierten der ILO in Washington ablichten. DGB/ILO
Schon im Herbst 1919 wurde die erste Konferenz der ILO in Washington abgehalten, neben der Einführung des Achtstundentages wurde dabei auch das Verbot von Nachtarbeit für Arbeiterinnen beschlossen. Für den rechtlichen Status oder vielleicht besser: den Schutz von Arbeiterinnen wollte man in der ILO zwar gern streiten, als aktive Mitglieder im Gremium waren Arbeiterinnen allerdings nicht vorgesehen. Schon in Paris war keine Frau Mitglied in der ILO-Kommission gewesen, auch die Lobbyarbeit der amerikanischen Gewerkschafsführerinnen Mary Anderson und Rose Schneiderman bei US-Präsident Woodrow Wilson höchstpersönlich zeitigte keinen Erfolg: Eine trilaterale Frauengruppe in jedem Mitgliedsstaat, die sich um die spezifischen Belange von Arbeiterinnen kümmern sollte, und eine eigene Abteilung am Sitz der ILO in Genf wurden nicht in der Satzung verankert. Dabei konnten die Aktivistinnen sehr wohl eine Norm der neuen Weltordnung zitieren, denn die Völkerbundsatzung hatte in Artikel 7 festgeschrieben, dass Frauen zu allen Ämtern des Bundes Zugang haben sollten. Noch bis 1925 sollte es dauern, bis mit der deutschen Sozialistin Martha Mundt eine Frau in Genf angestellt wurde, um als Verbindungsperson zu den Frauenvereinigungen zu wirken.
Da in bei der ersten Konferenz im Herbst 1919 in Washington keine einzige Frau als Delegierte vorgesehen war, kritisierte die norwegische Frauenrechtlerin Martha Larssen die ILO scharf: Die anstehende Konferenz in Washington dürfe keine Beschlüsse für Arbeiterinnen fassen, solange diese ihre Interessen nicht selbst vertreten könnten. Die amerikanischen Gewerkschafterinnen wählten einen pragmatischeren Zugang und organisierten kurzerhand selbst den International Congress of Working Women. Ihre Forderungen klingen zum Teil vertraut: Eine Frauenquote für die ILO und die Delegationen der Regierungs- und Arbeitervertreter*innen, Absenkung der Wochenarbeitszeit auf 44 Stunden (statt wie von der ILO vorgeschlagen auf 48 Stunden).
Eine zentrale Forderung, für die Arbeiterinnen und Arbeiter schon lange vor 1919 auf die Straße gegangen waren, wurde auf der Konferenz in Washington jedoch verwirklicht: Der Achtstundentag wurde vorgeschrieben. Die wichtigste Aufgabe dieser ersten Konferenz bestand nun darin, internationale Standards nicht nur festzulegen, sondern auch durchzusetzen. International bedeutete allerdings nicht weltweit, sondern bezog sich vornehmlich auf die westlichen Industriestaaten. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Kolonien galten die neuen rechtlichen Standards nämlich nicht.
Ziele zur einer nachhaltigen Entwicklung von der Internationalen Arbeitsorganisation kurz zusammengefasst. ILO
Zwar wurde ein Bevollmächtigter für indigene Arbeiter in die ILO berufen, doch der britische Jurist Harold Grimshaw war weit davon entfernt, tatsächlich als Fürsprecher seiner Schutzbefohlenen aufzutreten. Er hatte nicht einmal etwas gegen Zwangsarbeit, die er für berechtigt hielt, sofern es in den Kolonien einen Bedarf für diese Maßnahme gab. Dies verdeutlicht ein Dilemma der ILO: Sie sollte zwar die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern auch in den Kolonien stärken und schützen, zugleich aber den Imperialismus der Siegermächte nicht infrage stellen.
Etwas änderte sich aber doch: Die Native Labour Division, eine für dieses Thema zuständige Fachabteilung der ILO, dokumentierte Missbrauch und Gewalt in den Kolonien. Die Beamten der Abteilung gaben den Nöten und Bedürfnissen der Kolonisierten eine Stimme. Allerdings erwuchsen in der Zwischenkriegszeit aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen nicht die gleichen Rechte wie für die Arbeiter*innen in den Industrieländern. Mit dem "Native Labour Code" wurde um 1930 vielmehr ein rechtlicher Sonderstatus geschaffen, der Zwangsarbeit für öffentliche Zwecke weiterhin legitimierte.
Wie der Historiker Daniel Maul darlegt, brachten erst die Kolonialreformen von Philadelphia im Jahr 1944 und deren Umsetzung nach dem Zweiten Weltkrieg substantielle Änderungen für Arbeiter*innen in den damaligen Kolonien. Dass die Arbeit der ILO auch nach einhundert Jahren nicht erledigt ist, machte die ugandische Frauenrechtlerin und Direktorin von Oxfam Winnie Byanyima jetzt in Davos deutlich, als sie verlangte, Beschäftigung nicht allein aus quantitativer Sicht zu betrachten, sondern auch zu fragen, ob es sich um eine würdevolle Arbeit handele. Ziel der ILO war und bleibt es, gegen Arbeitsbedingungen vorzugehen, "die für eine große Anzahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind".
Die aktuellen Herausforderungen für die ILO beschreibt Guy Ryder so:
Zum Weiterlesen:
Kott, Sandrine / Droux, Jouelle (Hrsg.): Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond. London 2013.
Maul, Daniel: Menschenrechte, Sozialpolitik, Dekolonisation. Die Internationale Arbeiterorganisation (IAO) 1940 – 1970, Essen 2007.
Maul, Daniel: The International Labour Organization. 100 Years of Global Social Policy. Berlin 2019 (erscheint im August).
Van Daele, Jasmien: Engineering Social Peace. Networks, Ideas, and the Founding of the International Labour Organization. In: International Review of Social History 50 (2005). S. 435–466.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.