Deutscher Gewerkschaftsbund

05.09.2013

Kaleidoskop der Krise

Über: Friedrich, Sebastian / Schreiner, Patrick (Hrsg.), 2013: Nation - Ausgrenzung - Krise. Kritische Perspektiven auf Europa. 18 Euro bei edition assemblage (ISBN 978-3-942885-36-2).

"Verkauft doch Eure Inseln, ihr Pleite-Griechen... und die Akropolis gleich mit!" (Bild-Zeitung vom 27.10.2010). Solche und ähnliche Äußerungen sind längst nicht nur Bestandteil von Stammtischdiskussionen hinter verschlossenen Türen; sie konnten sich auch angesichts des Wechselspiels langfristiger europäischer Krisenphänomene und kurzsichtiger Rettungs­programme im öffentlichen, politischen Diskurs verankern. Die so genannte Eurokrise offenbart damit endgültig das Potential, zu einem Momentum der europäischen Desintegration zu werden. Der erhobene deutsche Zeigefinger ist dabei das unangenehme Beiwerk der Gegenwart. Er steht dafür, dass Verelendung und Krise mit einer Zunahme von Ausgrenzung und Entsolidarisierung einhergehen können.

Einen Zusammenhang zwischen Ökonomie, Nationalismus und Ausgrenzungs­tendenzen herzustellen, ist keinesfalls neu. Beispielsweise entspricht es dem Stand der wissenschaftlichen Forschung, dass der Nationalismus in modernen Staaten historisch eng mit der Bildung der kapitalistischen Gesellschaften verwoben ist. Längst überfällig ist allerdings eine Analyse, die die aktuellen Geschehnisse in Europa in den Fokus nimmt. Die Europäische Union ist mit der größten ökonomischen Krise nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Nicht nur die Idee der europäischen Integration, die in der Vergangenheit häufig durch wirtschaftliche Stabilität flankiert wurde, als durch tiefe, langfristige Wirtschaftskrisen und Rezessionen, scheint unter existenziellen Druck zu geraten. Auch das besorgniserregende Aufkommen von Nationalismus und Ausgrenzung auf allen Ebenen bedarf einer umfassenden Auseinandersetzung.  

Nationalismus und kapitalistische Krise

Mit "Nation - Ausgrenzung - Krise. Kritische Perspektiven auf Europa." erscheint nun ein Sammelband, der sich dieser Thematik in einer beachtlichen Detailtiefe nähert. Ausgehend von dem Standpunkt, dass Nationalismus und Ausgrenzung von Neoliberalismus und Kapitalismus nicht zu trennen sind, werden durch die Zusammenstellung der einzelnen Artikel in diesem Band zwei analytische Ebenen ermöglicht. Im ersten Teil des Buches gelingt eine umfassende theoretische Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen der krisenhaften Entwicklung des europäischen Kapitalismus neoliberaler Prägung und der Zunahme von nationalistischem bzw. ausgrenzendem Handeln. Daran anschließend nimmt die Artikelsammlung mit zehn länderbezogenen Beiträgen eine empirische Perspektive ein, die der Frage nach konkreten Erscheinungsformen von Nationalismus und Ausgrenzung in den europäischen Ländern vor dem Hintergrund der Krise nachspürt.

Der große Erkenntnisgewinn, der durch die Lektüre des gesamten Bandes eingelöst wird, liegt in den unterschiedlichen Zugängen der Autoren zum Thema begründet. Die Autoren haben einen geistes- bzw. sozialwissenschaftlichen Hintergrund - oftmals verbunden mit einer Nähe zum gewerkschaftlichen Lager - gemein, jedoch unterscheiden sich nicht nur im empirischen Teil die Perspektiven und Analyseansätze deutlich. Daraus ergibt sich nicht nur ein sehr detailliertes, sondern ebenso differenziertes Bild auf die Trias "Nation - Ausgrenzung - Krise", das insbesondere in den Länderberichten plastisch wird. Die Artikel bilden eine Art Kaleidoskop der Krise, das die vielen Facetten von Ausgrenzung und Nationalismus in Europa fokussiert. Die verschiedenen Blicke in die einzelnen Länder sind dabei wohl ausgewählt, da sie die Bandbreite der Unterschiedlichkeit der Erscheinungsformen mit einer beachtlichen Tiefenschärfe weit aufspannen.

Defizite

Was der Sammelband allerdings nicht zu leisten vermag, ist, die Varianz der Phänomene in einer umfassenden Systematik zu vereinen. Als vergeblich erweist sich der Wunsch des Lesers, ein übergeordnetes Muster nationalistischen und ausgrenzenden Verhaltens geliefert zu bekommen, welches als universelle Erklärung für den bereits im Titel skizzierten Zusammenhang herangezogen werden kann. Enttäuschung ruft dies allerdings nicht hervor, da es nicht Ergebnis der aufwändigen Analysen sein kann. Bereits im ersten Artikel wird durch Christoph Butterwegges Ausführungen über rassistische Ausgrenzung und das Aufkommen von Standort­nationalismus im Zusammenhang mit der Krise des neoliberalen Wirtschaftssystems die Vielschichtigkeit der Thematik deutlich. Auf das "komplexe Wechselverhältnis von Rassismus, Kapitalismus und Krise" weist spätestens Sebastian Friedrich in seinen Beitrag hin, woraus das Erfordernis einer (Neu-)Justierung der Rassismusanalyse abgeleitet wird. Im gesamten Sammelband treten durch den gewählten Fokus zwar sich wiederholende Grundmuster hervor. Aber es darf als analytische Stärke interpretiert werden, dass die Herausgeber der Versuchung widerstehen, das akribisch zusammen­getragene empirische Material in ein Modell zu pressen. Von der gezielten Ausgrenzung der Roma in Ungarn unter der Fidesz-Regierung (Arnold/Schreiner) bis zum Wiederaufleben des (Standort-)nationalismus in Katalonien und im Baskenland (Eser) bedürfen die Ausgrenzungsformen einer differenzierten Analyse. Somit unterstreicht die empirische Reise durch das Europa der Krise umso mehr, dass es in diesen Fällen keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen geben kann.

Am Ende steht das Fazit der Herausgeber, dass "Formen und Erscheinungsweisen von Nationalismus und Ausgrenzung in Europa [...] vielfältig und bisweilen widersprüchlich" sind. (Friedrich/Schreiner). Daraus leitet sich entsprechend der weitere Forschungsbedarf ab. Zumal ein Ende der Krise Europas nicht abzusehen ist, ist (erst recht) ein Ende von Nationalismus und Ausgrenzung unwahrscheinlich. Die wechsel­seitigen Zusammenhänge kritisch zu analysieren und damit aufzudecken, ist eine wesentliche Aufgabe nicht nur der Sozialwissenschaften dieser Zeit. Der Sammelband "Nation - Ausgrenzung - Krise" leistet hier einen wichtigen Beitrag, der die Basis für die weitere Auseinandersetzung legen kann. Die Lektüre des Buches darf damit jeder/jedem an Herz gelegt werden, der/die die gegenwärtige Entwicklung Europas mit Sorge beobachtet und auf der Suche nach einer differenzierten Position ist.   


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Johannes Grabbe
Geboren 1983
Politischer Referent in den Abteilungen Vorstand und Organisation beim DGB-Bezirk Niedersachsen – Bremen – Sachsen-Anhalt
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