Die Mindestlohnkommission hat ihren vierten Beschluss zur Anpassung des Mindestlohns vorgelegt. Gegen die Stimmen der Gewerkschaften. Das ist neu und wirft zwei Fragen auf: Reicht die vorgeschlagene Anhebung und braucht es eine Reform des Mindestlohngesetzes?
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Gegen die Stimmen der Gewerkschaften haben die Arbeitgebervertreter in der Mindestlohnkommission gemeinsam mit der unabhängigen Vorsitzenden einen Beschluss durchgesetzt, der eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes von 12 Euro auf 12,41 Euro ab Januar 2024 und auf 12,82 Euro ab Januar 2025 vorsieht. Die Gewerkschaften kritisierten den Beschluss als „absolut nicht zufriedenstellend“, sechs Millionen Beschäftigte würden damit „einen enormen Reallohnverlust“ erleiden.
Zur Vorgeschichte: Nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 in Höhe des politisch gesetzten Betrages von 8,50 Euro je Stunde war es regelmäßig die Aufgabe der Mindestlohnkommission, einen Beschluss zur Anpassung vorzulegen. Ziel ist dabei im Rahmen einer „Gesamtabwägung“ ein angemessener Mindestschutz der Beschäftigten, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen sowie keine Gefährdung von Beschäftigung. Das Gesetz gibt vor, dass sich die Mindestlohnkommission dabei „nachlaufend an der Tarifentwicklung orientiert“. Von diesem Verfahren wurde ein einziges Malabgewichen, als nämlich 2022 durch Änderung des Mindestlohngesetzes der Mindestlohn auf 12 Euro ab Oktober 2022 festgesetzt wurde. Anschließend sollte wieder das alte Verfahren angewendet werden.
Genau das ist jetzt geschehen und die Arbeitgeber haben dabei die Chance gesehen und genutzt, ihre Ablehnung des 12-Euro-Mindestlohns noch einmal nachdrücklich zum Ausdruck zu bringen. Wie auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des mehrheitlichen Beschlusses deutlich wurde, schlugen sie in der Kommission zunächst vor, die Anhebung des Mindestlohns um ein Jahr auf Anfang 2025 zu verschieben, um bis dahin die Auswirkungen der Anhebung auf 12 Euro genauer beurteilen zu können. Ein weiterer Vorschlag war, lediglich die Tariflohnentwicklung seit Oktober 2022 in Höhe von etwa 2 Prozent für die künftige Anhebung des Mindestlohns zu berücksichtigen. Beides fand keine Zustimmung. Die schließlich präsentierte Lösung, die Tarifentwicklung von Juni 2022 bis Juni 2023 in Höhe von 7,8 Prozent als Orientierungsgröße zu nehmen, hätte eine zweistufige Anhebung um jeweils 3,9 Prozent bedeutet. Hier setzten die Arbeitgeber jedoch durch, dass diese Steigerung lediglich auf den Mindestlohn von 10,45 Euro statt auf die 12 Euro angewendet wurde, der bis September 2022 gültig war. Die Differenz von 1,55 Euro wurde anschließend hinzuaddiert. Auf diese Weise ergibt sich lediglich eine Anhebung des geltenden Mindestlohns um 3,4 Prozent ab Januar 2024 und weitere 3,3 Prozent ab Januar 2025.
Was bedeutet nun die beschlossene Anhebung um zwei Mal 41 Cent? Um das beurteilen zu können, wird in der folgenden Grafik die Entwicklung des nominalen und inflationsbereinigten realen Mindestlohns als Index (Oktober 2022 = 100) dargestellt. Dabei wird für das Jahr 2023 eine Inflationsrate von 6 Prozent sowie für die Jahre 2024 und 2025 von 3 Prozent und 2,5 Prozent unterstellt.
Vom Inkrafttreten des Mindestlohns von 12 Euro im Oktober 2022 bis Ende 2023 verzeichnet der reale inflationsbereinigte Mindestlohn einen Rückgang um rund sechs Prozent, die Anhebung um 41 Cent Anfang 2024 wird diesen Verlust allerdings nur vorübergehend reduzieren. Dasselbe gilt für die Anhebung Anfang 2025. Am Ende des Zeitraums liegt der Realwert des dann erreichten Mindestlohns von 12,82 Euro rund 5 Prozent niedriger als zu Beginn. Ein Verweis auf die in der Tat kräftige Anhebung des Mindestlohns im Oktober 2022 hilft nur begrenzt, denn damit wurden zumindest zum Teil lediglich die erheblichen Kaufkraftverluste seit Anfang 2021 ausgeglichen.
Es gibt einen weiteren zentralen Kritikpunkt. In verschiedenen Stellungnahmen der vergangenen Wochen und Monate wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass die aktuelle Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes bei weitem zu niedrig sei, um ein angemessenes Verdienstniveau sicherzustellen (vgl. verschiedene Stellungnahmen im Mindestlohn-Kommission Ergänzungsband 2023). Weithin Konsens besteht darin, dass die Höhe von 60 Prozent des mittleren Lohnes (Median) von Vollzeitbeschäftigten eine sinnvolle Zielgröße darstellt. Sie wird allgemein als Wert zur Abgrenzung des Niedriglohnbereichs verwendet. Sie hat auch Eingang in die Europäische Mindestlohnrichtlinie gefunden. Dort wird sie explizit als Referenzmaßstab zur Bewertung der Angemessenheit nationaler Mindestlöhne genannt.
Eine Analyse von WSI und IMK für die Mindestlohnkommission hat ergeben, dass der Mindestlohn in Deutschland seit 2015 um die 48 Prozent des mittleren Lohnes variierte und erst durch die Anhebung auf 12 Euro auf gut 53 Prozent stieg. Um die angestrebten 60 Prozent zu erreichen, müsste der Mindestlohn ungefähr bei 13,50 Euro liegen.
Wie soll es nun weitergehen? Aktuell kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil an, die Regierung werde nun die Empfehlung der Mindestlohn-Kommission umsetzen. Die einzige rechtlich mögliche Alternative, den Mindestlohn gar nicht zu erhöhen, sei unverantwortbar, so der Minister.
Das ist zweifellos richtig, aber damit sind die grundsätzlichen Probleme nicht gelöst. Verlauf und Ergebnis der jüngsten Verhandlungen in der Mindestlohnkommission haben gezeigt, dass bei den bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen die genannten offenen Fragen kaum mit Aussicht Erfolg zu adressieren ist. Die Arbeitgeber demonstrierten eine extrem restriktive und unhaltbare Interpretation des Mindestlohngesetzes. Die Gestaltungsempfehlungen der Europäischen Mindestlohnrichtlinie sind aus ihrer Sicht, weil rechtlich unverbindlich, ohne Bedeutung. Die Gewerkschaften stellen zwar nicht die Mindestlohnkommission in Frage, kritisieren aber die bisherige Form und kündigten an, das weitere Vorgehen zunächst intern zu diskutieren.
Tatsächlich ist das Verfahren der Mindestlohnanpassung über die Mindestlohnkommission keineswegs – wie oft fälschlich angenommen – eine Fortsetzung der Tarifpolitik mit anderen Mitteln. Den Gewerkschaften fehlt das in jeder Tarifrunde prinzipiell zur Verfügung stehende Mittel, Druck durch Arbeitskampfmaßnahmen auszuüben. Manche schlagen vor, die Konstruktion der Mindestlohnkommission zu ändern. Aber die Hoffnung, dass eine andere Zusammensetzung der Mindestlohnkommission, etwa durch eine stärkere oder gar ausschließliche Besetzung mit Wissenschaftler*innen mit Stimmrecht, Abhilfe schaffen könnte, ist wohl illusorisch. Aller Erfahrung nach unterliegt auch in diesem Fall die Personalauswahl vorab einer politischen Einflussnahme mit entsprechenden Konsequenzen.
Vieles spricht dafür, den Auftrag an die Mindestlohnkommission und die dabei zu berücksichtigen Kriterien im Gesetz nachzuschärfen. Klargestellt werden sollte zumindest, dass die nachlaufende Orientierung an der Tariforientierung keinesfalls als Obergrenze der Mindestlohnanpassung zu verstehen ist. Auch das Ziel einer Reduzierung des Niedriglohnsektors durch eine Orientierung an der Zielmarke von 60 Prozent des mittleren Lohnes sollte verbindlich in das Gesetz aufgenommen werden. Alternativ könnte die Marke von 60 Prozent des Medianlohns als Untergrenze des gesetzlichen Mindestlohns in das Gesetz aufgenommen werden. Der Mindestlohnkommission könnte neben der Evaluation der Mindestlohnentwicklung auch die Aufgabe zukommen, Konzepte für Regionen mit besonders hohen Lebenshaltungskosten zu entwickeln (living wages).
Wie schon in den vergangenen Jahren gilt auch diesmal: Nach der Anpassung des Mindestlohns ist vor der Anpassung. Ob neue Initiativen für eine Weiterentwicklung des Mindestlohngesetzes erfolgreich sein werden, dürfte entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Druck aufzubauen. Das ist zur Überraschung vieler bei der Durchsetzung des 12-Euro-Mindestlohns schon einmal gelungen.
DGB/Heiko Sakurai
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