Deutscher Gewerkschaftsbund

25.11.2020

Warteschlange für soziale Gerechtigkeit

Warum wählen Arbeiter rechtspopulistische Parteien? Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre untersucht in seinem Buch "In der Warteschlange" die Ursachen und präsentiert Befunde der empirischen Forschung aus vier Jahrzehnten. Dörre erzählt eine "rechte Tiefengeschichte", die sich im Zeitverlauf radikalisiert.

 

Interview: Thomas Gesterkamp

Eine lange Schlange von Menschen steht von weit hinten links bis vorne rechts; die ersten stehen auf Stufen einer Treppe.

"Die Betroffenen sehen sich in einer Warteschlange, die am Fuße des Bergs der Gerechtigkeit steht – aber es geht nicht vorwärts." DGB/genemacon/123rf.com

Gegenblende: Nur mühsam hat der neue US-Präsident Joe Bilden die umkämpften Bundesstaaten im nordamerikanischen “Rostgürtel” wie Michigan, Wisconsin oder Pennsylvania zurückgewonnen. Etwa 74 Millionen Wähler, darunter viele weiße Industriearbeiter, haben sich für Donald Trump entschieden. Woran liegt das?

Klaus Dörre: Der Filmemacher Michael Moore sagt zu Recht, die Demokraten verstehen diese Arbeiter nicht. Sie fühlen sich als gesellschaftliche Verlierer. Das hat Trump geschickt angesprochen, rhetorisch die Unsichtbaren sichtbar gemacht. Seine Wirtschaftspolitik hat die Industriejobs nicht zurückgebracht, doch die wahrgenommene Aufwertung schlägt die ökonomische Vernunft. Trump gab Arbeitern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben, der Maßstab für Normalität zu sein. Das ist der soziale Kitt für eine imaginäre Revolte, die sich gegen das Establishment richtet. Wir geben den Arbeitern ihre Größe zurück, lautet die Botschaft, die bei vielen nach wie vor verfängt.

Ihr neues Buch trägt den Titel "In der Warteschlange". Wer wartet dort und kommt nicht voran?

Bei deutschen Arbeitern lässt sich eine ähnliche Tiefengeschichte entdecken. In Thüringen hat die AfD bei den letzten Landtagswahlen 22 Prozent der Stimmen bekommen, bei den betrieblich Aktiven waren es 39, in Brandenburg gar 44 Prozent. Im Westen der Republik finden wir ähnliche Phänomene, auch in Baden-Württemberg war die AfD bei den letzten Landtagswahlen stärkste Arbeiterpartei. Die Betroffenen sehen sich in einer Warteschlange, die am Fuße des Bergs der Gerechtigkeit steht – aber es geht nicht vorwärts. Ständig gibt es neue Gründe für Stockungen: die Globalisierung, die deutsche Einheit, die Eurokrise. Während dessen ziehen andere vermeintlich vorbei, etwa Geflüchtete, die „nur“ wegen ihres Traums von einem besseren Leben kommen. Am Wohnort zerbröselt die soziale Infrastruktur: Erst schließen Geschäfte, dann fehlt die Arztpraxis, Buslinien fallen weg, dann macht die letzte Kneipe zu und Schule und Kita fehlen. Überall muss gespart werden, und gleichzeitig bekommen Zugewanderte, wie es in unseren Interviews häufig heißt, angeblich „alles“. Das wird als Kränkung erlebt. So entsteht ein psychologischer Mechanismus der Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer.

Arbeiter posieren in schmutzigen Arbeitsklamotten und rauchend für einen Fotografen; Bild in Schwarzweiß.

Etliche Wähler von Rechtspopulisten sehnen sich nach einer Zeit, in der sie als Arbeiter mehr wertgeschätzt wurden, eine Art "goldenes Zeitalter". Doch gab es das je, etwa hier bei Arbeitern im Jahr 1927? DGB/Wolfgang Sterneck/Flickr

Sie berichten von irritierenden Erfahrungen, die Sie schon Ende der 1980er-Jahre als Wissenschaftler im IG Metall-Bildungszentrum Sprockhövel bei Bochum machten. Was haben Sie beobachtet?

Junge gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die ich damals befragte, machten im Lehrgang mit wie in der Schule. Ob es um den Wert der Arbeit, um Ausbeutung oder Arbeitslosigkeit ging, die Teilnehmenden stellten die Deutungsmuster der Dozierenden nicht in Frage. Niemals wäre ich darauf gekommen, dass auch nur einer von ihnen mit Parteien der radikalen Rechten sympathisieren könnte. Dann sagte mir der erste Interviewpartner, er habe bei den Europawahlen für die Republikaner gestimmt, und er blieb nicht der einzige. Ich fand schon damals nahezu alle Elemente der Erzählung von der Warteschlange. Es war aber eher eine Protesthaltung als ein geschlossenes Weltbild.

Sie diagnostizieren die “Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter”, als die Arbeiterschaft noch respektiert wurde und es mehr Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Aufstieg gab. Was hat sich verändert?

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich das offenkundig verfestigt und radikalisiert. Für aktive Gewerkschafter, die wir in neueren Untersuchungen befragt haben, ist es kein Widerspruch, sich einerseits aktiv an Arbeitskonflikten und Streiks zu beteiligen, aber auch die Busse zu organisieren, mit denen man zur Pegida-Demonstration fährt. Beides gilt als Akt legitimen demokratischen Aufbegehrens.

Den Begriff "Tiefengeschichte" haben Sie von der kalifornischen Soziologin Arlie Hochschild übernommen, die eine Studie über “Fremde im eigenen Land” gemacht hat. Was kommt heraus, wenn Sozialforschung in die Tiefe geht?

Gängige Klischees aus der Rechtspopulismus-Debatte lassen sich nicht mehr aufrechterhalten. Hochschild lebte eine Zeit lang unter Menschen, die an den amerikanischen Traum vom sozialen Aufstieg glauben. Es waren gar nicht unbedingt die Ärmsten der Gesellschaft. Teilweise litten sie unter der Naturzerstörung, die Großkonzerne auf Kosten der einfachen Leute praktizierten. Keinesfalls wollten sie anderen auf der Tasche liegen. Diese „gewöhnlichen Leute“ fühlten sich nicht mehr repräsentiert durch eine Politik, die an ihrem Alltag völlig desinteressiert schien. Wir sind mit unseren soziologischen Tiefenbohrungen in Deutschland auf ähnliche Probleme gestoßen. Wir haben gezielt nach Arbeitern und Betriebsräten gesucht, die aus ihrer Sympathie für Pegida und die radikale Rechte keinen Hehl machen. Wir haben diese Aussagen mit Deutungen von Gewerkschaftsmitgliedern kontrastiert, die offensiv Gegenpositionen beziehen, das ist nach wie vor die Mehrheit der Aktiven. Vergleicht man die jeweiligen Weltsichten, stößt man auf einen rationalen Kern, der sich gleichermaßen in linken wie rechten Gesellschaftsbildern findet. „Arbeiter wird man nur, wenn man muss; wer kann, studiert oder geht ins Büro“, lautet ein Schlüsselsatz in vielen Interviews. Der Arbeiterstatus ist nicht mehr mit einer kollektiven Aufstiegshoffnung verbunden. Im Gegenteil, mit mittlerem Schulabschluss und Ausbildung steckt man, trotz zehn Jahren Prosperität, in der Gesellschaft fest.

Demonstranten, die eine Deutschlandfahne tragen, sind von hinten zu sehen, vor ihnen steht ein Polizist, der Kamera zugewandt, mit Helm.

Bei den Corona-Demonstrationen spielen Rechte eine zentrale Rolle. Im nächsten Jahr sollten sie jedoch nicht im Fokus stehen, sondern sozialpolitische Angebote, die die Konzeptlosigkeit von Populisten wie der AfD vorführen. DGB/Matthias Berg/Flickr

Sind akademisch geprägte Linke und Linksliberale moralisch überheblich, kümmern Sie sich zu viel um Rassismus oder Gendersternchen?

Ich halte den starren Gegensatz von Klassen- und Identitätspolitik für falsch. Empirisch zeigt sich aber, dass gerade männliche Arbeiter reale oder vermeintliche Überlegenheitsgesten sehr genau registrieren. Sie sehen dadurch den eigenen Entwurf vom guten Leben in Frage gestellt. Zu diesem Traum gehören das repräsentative Auto, das Eigenheim, der sichere Job und eine klare Rollenverteilung in der Familie. Wer das ohne genaue Kenntnis der Situation aus einer privilegierten Position hinterfragt, wertet nach ihrer Wahrnehmung legitime Lebensentwürfe ab.

In 2021 stehen Landtagswahlen in Thüringen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an, im Herbst folgt die Bundestagswahl. Was raten Sie Politikern und Gewerkschaftern, die weitere Erfolge der Rechten verhindern wollen?

Sie sollten keinen Anti-AfD-Wahlkampf führen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat recht: Künftig muss jede Politik daran gemessen werden, was sie zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beizutragen hat. Legt man diese Messlatte an, hat die AfD wenig zu bieten, sie ist innerlich zerrissen. Immer wenn die Partei versucht, sich der sozialen Frage zu bemächtigen, sollte man sich kompetent mit ihren Positionen auseinander setzen. Es reicht nicht, die Konzepte als “rechtsextrem“ oder „neoliberal“ zu klassifizieren, die Pferdefüße müssen argumentativ herausgearbeitet werden. Es geht um jene Arbeiter, die noch nicht völlig festgelegt sind. Ihnen muss man zeigen: Aufforderungen, den Klimawandel zu leugnen, am Verbrennungsmotor festzuhalten oder den Braunkohle-Tagebau fortzusetzen, bewirken im besten Falle nichts. Im schlechtesten Falle verhelfen sie einem Katastrophenkapitalismus zum Durchbruch, der auch den Kindern von AfD-Sympathisanten eine lebenswerte Zukunft nimmt.

 


 

Buchumschlag von Klaus Dörres Buch "In der Warteschlange"

Westfälisches Dampfboot

Klaus Dörre: In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2020. 356 Seiten, 30 Euro.

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Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Einen Schwerpunkt seiner Forschung bilden Rechtspopulismus und die Prekarisierung von Erwerbsarbeit. Sein neues Buch enthält neben Originaltexten auch bereits veröffentlichte Beiträge aus Fachzeitschriften in leicht bearbeiteter Form.


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Kurzprofil

Thomas Gesterkamp
Thomas Gesterkamp schreibt seit über 30 Jahren als Journalist über die Arbeitswelt und Familienpolitik.
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DGB/Heiko Sakurai

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