Warum wählen Arbeiter rechtspopulistische Parteien? Der Jenaer Soziologe Klaus Dörre untersucht in seinem Buch "In der Warteschlange" die Ursachen und präsentiert Befunde der empirischen Forschung aus vier Jahrzehnten. Dörre erzählt eine "rechte Tiefengeschichte", die sich im Zeitverlauf radikalisiert.
Interview: Thomas Gesterkamp
"Die Betroffenen sehen sich in einer Warteschlange, die am Fuße des Bergs der Gerechtigkeit steht – aber es geht nicht vorwärts." DGB/genemacon/123rf.com
Klaus Dörre: Der Filmemacher Michael Moore sagt zu Recht, die Demokraten verstehen diese Arbeiter nicht. Sie fühlen sich als gesellschaftliche Verlierer. Das hat Trump geschickt angesprochen, rhetorisch die Unsichtbaren sichtbar gemacht. Seine Wirtschaftspolitik hat die Industriejobs nicht zurückgebracht, doch die wahrgenommene Aufwertung schlägt die ökonomische Vernunft. Trump gab Arbeitern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben, der Maßstab für Normalität zu sein. Das ist der soziale Kitt für eine imaginäre Revolte, die sich gegen das Establishment richtet. Wir geben den Arbeitern ihre Größe zurück, lautet die Botschaft, die bei vielen nach wie vor verfängt.
Bei deutschen Arbeitern lässt sich eine ähnliche Tiefengeschichte entdecken. In Thüringen hat die AfD bei den letzten Landtagswahlen 22 Prozent der Stimmen bekommen, bei den betrieblich Aktiven waren es 39, in Brandenburg gar 44 Prozent. Im Westen der Republik finden wir ähnliche Phänomene, auch in Baden-Württemberg war die AfD bei den letzten Landtagswahlen stärkste Arbeiterpartei. Die Betroffenen sehen sich in einer Warteschlange, die am Fuße des Bergs der Gerechtigkeit steht – aber es geht nicht vorwärts. Ständig gibt es neue Gründe für Stockungen: die Globalisierung, die deutsche Einheit, die Eurokrise. Während dessen ziehen andere vermeintlich vorbei, etwa Geflüchtete, die „nur“ wegen ihres Traums von einem besseren Leben kommen. Am Wohnort zerbröselt die soziale Infrastruktur: Erst schließen Geschäfte, dann fehlt die Arztpraxis, Buslinien fallen weg, dann macht die letzte Kneipe zu und Schule und Kita fehlen. Überall muss gespart werden, und gleichzeitig bekommen Zugewanderte, wie es in unseren Interviews häufig heißt, angeblich „alles“. Das wird als Kränkung erlebt. So entsteht ein psychologischer Mechanismus der Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer.
Etliche Wähler von Rechtspopulisten sehnen sich nach einer Zeit, in der sie als Arbeiter mehr wertgeschätzt wurden, eine Art "goldenes Zeitalter". Doch gab es das je, etwa hier bei Arbeitern im Jahr 1927? DGB/Wolfgang Sterneck/Flickr
Junge gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die ich damals befragte, machten im Lehrgang mit wie in der Schule. Ob es um den Wert der Arbeit, um Ausbeutung oder Arbeitslosigkeit ging, die Teilnehmenden stellten die Deutungsmuster der Dozierenden nicht in Frage. Niemals wäre ich darauf gekommen, dass auch nur einer von ihnen mit Parteien der radikalen Rechten sympathisieren könnte. Dann sagte mir der erste Interviewpartner, er habe bei den Europawahlen für die Republikaner gestimmt, und er blieb nicht der einzige. Ich fand schon damals nahezu alle Elemente der Erzählung von der Warteschlange. Es war aber eher eine Protesthaltung als ein geschlossenes Weltbild.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich das offenkundig verfestigt und radikalisiert. Für aktive Gewerkschafter, die wir in neueren Untersuchungen befragt haben, ist es kein Widerspruch, sich einerseits aktiv an Arbeitskonflikten und Streiks zu beteiligen, aber auch die Busse zu organisieren, mit denen man zur Pegida-Demonstration fährt. Beides gilt als Akt legitimen demokratischen Aufbegehrens.
Gängige Klischees aus der Rechtspopulismus-Debatte lassen sich nicht mehr aufrechterhalten. Hochschild lebte eine Zeit lang unter Menschen, die an den amerikanischen Traum vom sozialen Aufstieg glauben. Es waren gar nicht unbedingt die Ärmsten der Gesellschaft. Teilweise litten sie unter der Naturzerstörung, die Großkonzerne auf Kosten der einfachen Leute praktizierten. Keinesfalls wollten sie anderen auf der Tasche liegen. Diese „gewöhnlichen Leute“ fühlten sich nicht mehr repräsentiert durch eine Politik, die an ihrem Alltag völlig desinteressiert schien. Wir sind mit unseren soziologischen Tiefenbohrungen in Deutschland auf ähnliche Probleme gestoßen. Wir haben gezielt nach Arbeitern und Betriebsräten gesucht, die aus ihrer Sympathie für Pegida und die radikale Rechte keinen Hehl machen. Wir haben diese Aussagen mit Deutungen von Gewerkschaftsmitgliedern kontrastiert, die offensiv Gegenpositionen beziehen, das ist nach wie vor die Mehrheit der Aktiven. Vergleicht man die jeweiligen Weltsichten, stößt man auf einen rationalen Kern, der sich gleichermaßen in linken wie rechten Gesellschaftsbildern findet. „Arbeiter wird man nur, wenn man muss; wer kann, studiert oder geht ins Büro“, lautet ein Schlüsselsatz in vielen Interviews. Der Arbeiterstatus ist nicht mehr mit einer kollektiven Aufstiegshoffnung verbunden. Im Gegenteil, mit mittlerem Schulabschluss und Ausbildung steckt man, trotz zehn Jahren Prosperität, in der Gesellschaft fest.
Bei den Corona-Demonstrationen spielen Rechte eine zentrale Rolle. Im nächsten Jahr sollten sie jedoch nicht im Fokus stehen, sondern sozialpolitische Angebote, die die Konzeptlosigkeit von Populisten wie der AfD vorführen. DGB/Matthias Berg/Flickr
Ich halte den starren Gegensatz von Klassen- und Identitätspolitik für falsch. Empirisch zeigt sich aber, dass gerade männliche Arbeiter reale oder vermeintliche Überlegenheitsgesten sehr genau registrieren. Sie sehen dadurch den eigenen Entwurf vom guten Leben in Frage gestellt. Zu diesem Traum gehören das repräsentative Auto, das Eigenheim, der sichere Job und eine klare Rollenverteilung in der Familie. Wer das ohne genaue Kenntnis der Situation aus einer privilegierten Position hinterfragt, wertet nach ihrer Wahrnehmung legitime Lebensentwürfe ab.
Sie sollten keinen Anti-AfD-Wahlkampf führen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat recht: Künftig muss jede Politik daran gemessen werden, was sie zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit beizutragen hat. Legt man diese Messlatte an, hat die AfD wenig zu bieten, sie ist innerlich zerrissen. Immer wenn die Partei versucht, sich der sozialen Frage zu bemächtigen, sollte man sich kompetent mit ihren Positionen auseinander setzen. Es reicht nicht, die Konzepte als “rechtsextrem“ oder „neoliberal“ zu klassifizieren, die Pferdefüße müssen argumentativ herausgearbeitet werden. Es geht um jene Arbeiter, die noch nicht völlig festgelegt sind. Ihnen muss man zeigen: Aufforderungen, den Klimawandel zu leugnen, am Verbrennungsmotor festzuhalten oder den Braunkohle-Tagebau fortzusetzen, bewirken im besten Falle nichts. Im schlechtesten Falle verhelfen sie einem Katastrophenkapitalismus zum Durchbruch, der auch den Kindern von AfD-Sympathisanten eine lebenswerte Zukunft nimmt.
Westfälisches Dampfboot
Klaus Dörre: In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2020. 356 Seiten, 30 Euro.
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Dörre ist seit 2005 Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Einen Schwerpunkt seiner Forschung bilden Rechtspopulismus und die Prekarisierung von Erwerbsarbeit. Sein neues Buch enthält neben Originaltexten auch bereits veröffentlichte Beiträge aus Fachzeitschriften in leicht bearbeiteter Form.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.