Deutscher Gewerkschaftsbund

08.03.2016

Baden-Württemberg als handlungsfähiger Staat?

Kaputtes Strassenschild Verkehrszeichen Kinder

Colourbox.de

Tübingen gilt als baden-württembergische Vorzeigestadt in Bezug auf die Versorgung mit KiTa-Plätzen. Nun ist meine „große“ Tochter gerade drei Jahre alt geworden. Doch der Beginn ihrer Eingewöhnungszeit in einem kommunalen Tübinger Kindergarten lässt auf sich warten. Denn die Personalausstattung in der zukünftigen Gruppe meiner Tochter erlaubt es noch nicht mit der Eingewöhnung zu beginnen. Die dünne Personaldecke und der Krankenstand (Burn-Out einer Erzieherin), sowie die berufliche Veränderung eines jungen Erziehers, der dann doch zu wenig Perspektiven im Beruf sah, verschieben die Aufnahme meiner Tochter. Wer will es dem jungen Mann verdenken: Mit einem durchschnittlichen Gehalt von knapp 1600 Euro im Monat netto, ist es im teuren Neckarraum schwierig eine familiäre Zukunftsplanung zu gestalten. Die Arbeitsbelastung im ErzieherInnenberuf liegt dagegen deutlich über dem Durchschnitt der Beschäftigten.

Kein Problem: als freiberuflicher Wissenschaftler bin ich ja schließlich hochflexibel und kann einspringen und meine Tochter auch selbst betreuen. Feste Stellen gibt es nach wie vor selten im Wissenschaftsbetrieb und wenn, dann nur mit Kettenverträgen, auch im reichen Baden-Württemberg. So sind nach den aktuellsten Angaben des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums in 2013, 82 Prozent der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen befristet beschäftigt. Als Lehrbeauftragter mit regelmäßigen Werkverträgen im Lehrbetrieb einer Hochschule liege ich somit voll im Trend. Die sogenannten „nebenberuflichen“ wissenschaftlichen Beschäftigten an den baden-württembergischen Hochschulen haben seit dem Jahr 2000 von 30 Prozent auf nahezu die Hälfte (48,4 Prozent) des wissenschaftlichen Personals zugenommen. Im letzten erfassten grün-roten Regierungsjahr zwischen 2012 und 2013 sogar recht kräftig um 6,1 Prozent. Da spart das Ländle fleißig auf Kosten seines wissenschaftlichen Personals. Prekarität und die daraus entstehende Altersarmut sind allerdings das Gegenteil eines handlungsfähigen Staates für die Menschen.

Der Spielplatz als Arbeitsplatz

Während ich also wiedermal auf dem Spielplatz „arbeiten“ muss, befindet sich die kleinere meiner beiden Töchter in einer Kindertagesstätte für unter Dreijährige mit ebenfalls dünner Personaldecke. Zum Glück bin ich nicht alleinerziehend und wohne auch nicht auf dem baden-württembergischen Land, wo Betreuungsmöglichkeiten für Unter-Dreijährige noch immer rar sind. Es ist kein Wunder bei einer der niedrigsten Betreuungsquoten im Bundesländervergleich. In Baden-Württemberg leben nach dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung überdurchschnittlich viele Alleinerziehende (45,8 Prozent), die potentiell von Armut betroffen sind. Somit ist die Armut von jungen Erwachsenen in Baden-Württemberg deutlich angestiegen.

Auch in der Kinderkrippe für meine „kleine“ Tochter kommt es regelmäßig zu früheren Schließungen oder Notbetreuungen durch kurzfristig hinzugezogene und den Kindern fremde Personen. Obwohl Baden-Württemberg im deutschlandweiten Vergleich noch einen der besten „Personalschlüssel“ (1 zu 3) in den Einrichtungen für Unter-Dreijährige hat. In anderen Bundesländern, wie z.B. Sachsen, existiert dementgegen eine katastrophale Betreuungsqualität bei Unter-Dreijährigen mit Personalschlüsseln von Eins zu Sieben. Betrachtet man diesen Vergleich aber etwas genauer, wird eines deutlich: Die Qualität der Betreuung hat vor allem mit dem Wohlstand und der Betreuungsquote eines Bundeslandes zu tun. Im wirtschaftlich gutsituierten Südwesten werden prozentual pro Kohorte viel weniger Kinder in die Betreuung gegeben. Das traditionell westdeutsche Ein-Ernährermodell wird hier aufgrund der besseren Einkommen und der mangelnden Betreuungsmöglichkeiten noch häufiger praktiziert. So unterscheidet sich in 2014 die Betreuungsquote in Baden-Württemberg (27,8 Prozent) massiv von der im oben genannten Sachsen messbaren Betreuungsquote von 49,9 Prozent . Das verweist auf die interessante Tatsache, dass Sachsen einen viel höheren Anteil seines Brutto-Inlandsprodukts (BIP) als auch seiner staatlichen Gesamtausgaben für Kitas und Jugendarbeit ausgibt. Gleichzeitig kann das Bundesland damit aber nur eine miserable Betreuungsrelation in den KiTas realisieren. Im Umkehrschluss heißt das: Was für eine Vereinbarkeit von Betreuungs- und Arbeitssituation würde man fördern, wenn man (wie aus dem Tabellenteil des Bildungsfinanzberichts ersichtlich wird) das reiche Baden-Württemberg, wie Sachsen 1,1 Prozent statt wie 2014 nur 0,6 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes (BIP) für Kitas und Jugendarbeit ausgeben würde?

Deutsche Kinderärzte wiesen auf ihrer Jahrestagung 2011 daraufhin, dass Kinder im ersten Lebensjahr eine Betreuungsrelation von einer/m Erzieher/in zu maximal zwei Kindern benötigen würden, um nicht in emotionale Stresszustände zu geraten, die negative gesundheitliche Auswirkungen haben. Bei Kindern ab dem ersten Lebensjahr empfehlen sie eine Relation von Eins zu Drei. Die Politikwissenschaftlerin Cornelia Heintze weist daraufhin, dass bei der Berechnung des Statistischen Bundesamtes zu den „Personalschlüsseln“ die Zeiten für Vorbereitung, Urlaub und Krankheit gar nicht eingerechnet werden[1]. So ist die hochgelobte baden-württembergische Drei-zu-eins-Relation bei Unter-Dreijährigen eigentlich vielmehr eine den ärztlichen Empfehlungen für Unter-Zweijährige widersprechende Vier-zu-eins-Relation, die Berufstätige nicht gerade mit einem guten Gewissen zur Arbeit gehen lässt, wenn die „Kleinsten“ nicht qualitativ ausreichend fremdbetreut werden.

Staat, quo vadis?

Wo, wenn nicht im reichen Baden-Württemberg, und wann, wenn nicht während dieser guten konjunkturellen Situation soll denn überhaupt einmal etwas für einen qualitativ guten, handlungsfähigen Staat, der für die Menschen da ist, getan werden? Die öffentlichen Ausgaben Baden-Württembergs für Bildung (Grundmittel in Relation zum BIP) sind in den letzten Jahren sogar noch um 0,2 Prozentpunkte zurückgegangen. Am schwierigsten ist das vor allem für die Schulen, die mit weniger Geld in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (Minus 0,2 Prozent) den Wandel zu mehr Inklusion und einer „Schule für Alle“ umsetzen sollen. Selbst in absoluten Zahlen sind die Ausgabensteigerungen zwischen 2011 und 2013 viel zu gering. In Relation zu den staatlichen Gesamtausgaben sind die Grundmittel für die Schulen sogar deutlich zurückgegangen.

Der Grund für die finanzielle bildungs- und sozialpolitische Stagnation der letzten fünf Jahre ist das ideologische Festhalten an der schwarzen Null. Das wurde regelrecht zum Fetisch der grün-roten Landesregierung. Natürlich dominiert dieser Fetisch auch die Politik der schwarz-gelben Konkurrenz. Die Grundlage für einen wirklich handlungsfähigen Staat wäre eine andere Finanz- und Steuerpolitik. Aufgrund der verfassungsmäßigen Schuldenbremsen versprachen Grüne und Sozialdemokraten in vergangenen Wahlkämpfen, sie würden sich für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und für eine Verschärfung der vom Bundesverfassungsgericht als zu kapitalfreundlich kassierten Erbschaftssteuer einsetzen. Damit wäre eine wirkliche Alternative zur lähmenden Austeritätspolitik konzipiert. Die politische Realität ist, dass mit defizitären Infrastrukturen einem handlungsfähigen Staat die Grundlage entzogen ist.

Grüne und Sozialdemokraten haben stattdessen jedoch auf die versprochene Bundesratsinitiative zur Wiedereinführung der Vermögensteuer verzichtet und bei der Neugestaltung der Erbschaftssteuer Wolfgang Schäuble in ihren kapitalfreundlichen Forderungen rechts überholt. Sie haben nachdrücklich den Eindruck erweckt, dass es für die großen Vermögen keine Rolle spielt, welche Regierung von der Bevölkerung gewählt wird. Das war noch kein richtiger Politikwechsel für einen handlungsfähigen Staat, der soziale Gerechtigkeit schafft - „eines handlungsfähigen Staats, der für die Menschen da ist“ (Nikolaus Landgraf, Vorsitzender des DGB-Bezirks Baden-Württemberg). Diese vertane Chance spielt den RechtspopulistInnen in die Hände, die auf gebrochene Wahlversprechen, auf Politikverdrossenheit und Sozialstaatsversagen setzen. RechtspopulistInnen profitieren von der Konkurrenz der Bedürftigen um zurückgehende Mittel und stoßen bei der zunehmend prekarisierten und sich bedroht fühlenden Mittelschicht auf Resonanz.

Subjektive Bedürfnisse und objektive Daten machen uns letztlich klar, dass die riesigen Vermögen in Deutschland und Baden-Württemberg für unser aller Wohlergehen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Investiert werden muss vor allem in Bildung und Soziales. Diese Forderungen sollten für die fortschrittlichen Kräfte absolute Priorität haben. Dafür sollten wir uns einsetzen, egal wer regiert und wer gerade Wahlkampf macht. Wenn wir das nicht tun, werden sich die subjektiven Lebensverhältnisse weiter verschlechtern, Infrastrukturen verfallen und sich autoritäre Problembewältigungsmuster politisch etablieren.



[1] Heintze, Cornelia (2013): Die Straße des Erfolgs. Rahmenbedingungen, Umfang und Finanzierung kommunaler Dienste im deutsch-skandinavischen Vergleich, Marburg, S. 366.


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Kurzprofil

Tobias Kaphegyi
40 Jahre alt
Lehrbeauftragter an der dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen, freiberuflicher Wissenschaftler und Dozent
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