Nachdem Frankreichs Premierminister Edouard Philippe endlich Details für die lange angekündigte Rentenreform vorgestellt hat, werden die Proteste unvermindert weitergehen. Denn Philippe und Präsident Emmanuel Macron planen nicht nur nötige Korrekturen. Sie wollen ein System aushebeln, das für sozialen Ausgleich und Gerechtigkeit steht.
Von Rudolf Walther
"Für eine gerechte Welt lasst uns unsere Kräfte vereinigen" - in diesem Fall gegen eine ungerechte Rentenreform in Frankreich, mit Hilfe eines rollenden Supermans und der Gewerkschaften. DGB/Jeanne Menjoulet/Flickr/CC BY 2.0
In Frankreich war das Rentensystem bis zum Ende der IV. Republik (1944-1958) umstritten. Gegen die Rentenreform streikten 1953 heute undenkbare vier Millionen Menschen. In der V. Republik dann gab es fünf Anläufe, das Rentensystem zu reformieren – 1995, 2003, 2007, 2010 und jetzt 2019 – sowie fünf Streiks. Bislang hatten die Streiks viermal Erfolg und zwangen die Regierung zum Rückzug oder zur Entschärfung der Reform.
Seit Präsident Emmanuel Macron jede seiner Reformen – zuweilen mit umstrittenen Methoden wie der verfassungsrechtlich zulässigen Umgehung des Parlaments – durchbrachte, reden Konservative und Rechte das Ende der Gewerkschaften herbei. In dieses Lied stimmten nach dem überraschenden Erfolg der Bewegung der "gilets jaunes" (Gelbwesten) viele Beobachter ein. Sie verkündeten den Untergang der Gewerkschaftsverbände, weil sie sich gegenüber den Gelbwesten zunächst so desinteressiert zeigten, wie diese von institutionell organisierter Politik. Wüste Erscheinungen am Rande der Gelbwesten-Proteste dienen einigen dazu, die Bewegung pauschal als antisemitisch und Anhängsel von Marine Le Pens rechtsextremer Partei Rassemblement National zu etikettieren.
Angesichts des Generalstreiks vom 5. Dezember 2019 und der folgenden Streiktage erweisen sich beide Prognosen als voreilig. Ostentativ und sogar für rasende Medien unübersehbar demonstrierten Gewerkschaften und "gilets jaunes" gemeinsam gegen das Rentenreformprojekt von Macron. Nur so erklärt sich die massenhafte und flächendeckende Mobilisierung von rund einer Million Demonstrierenden – keineswegs nur Gewerkschaftsmitglieder. Und es streikten nicht nur Eisenbahner, Busfahrer und Metro-Angestellte, sondern auch Lehrer, Anwälte, Ärzte, Krankenschwestern, Angestellte in Verwaltungen sowie Feuerwehrleute.
Die Breite der Mobilisierung erklärt sich aus der Präsentation des Reformprojekts. Macron gab nämlich erst einmal keine Details bekannt, weil er so die die Durchsetzungschancen erhöhen und den Gewerkschaften die Mobilisierung zu erschweren wollte. Angekündigt im Herbst 2017, trat die Reform vor einem halben Jahr in das Stadium der benebelnden Stimmungsmache. Seither wird dem Publikum ununterbrochen vor allem eine einzige Zahl eingetrichtert: 42. Die existierenden 42 Rentenregelungen für fast so viele Berufsgruppen seien abzuschaffen und zu ersetzen durch ein einheitliches Punktesystem für die einbezahlten Rentenbeiträge. Das hört sich nicht unvernünftig an, ist aber erstens politisch hinterhältig und zweitens fundamental ungerecht.
Schon 1995, 2003, 2007 und 2010 versuchten konservative französische Regierungen vergeblich das Renten drastisch zu kürzen. Hier protestieren Gewerkschafter, u.a. von Confédération française démocratique du travail (CFDT), 2010 in Lyon gegen Kürzungspläne von Premier Fillon und Präsident Sarkozy. DGB/Aurélien Callamard/Flickr/CC BY-NC-ND 2.0
Das im internationalen Vergleich relativ hohe Rentenniveau und das frühe Renteneintrittsalter für einzelne Berufsgruppen wurde bislang doppelt gerechtfertigt – mit der Belastung durch Schichtdienste und mit dem geringen Lohn in der Gegenwart, der in der Zukunft mit einer guten Rente kompensiert werden soll. Mit der Ersetzung der 42 Sonderregelungen durch ein Punktesystem würden stillschweigend solche Kompensationsversprechen abgeräumt.
Schreiend ungerecht ist das scheinbar einfache Punktesystem, weil es gegen die elementarste Grundlage des Gerechtigkeitsprinzips verstößt, das verlangt – sachlich angemessen und logisch zwingend – Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln.
Die Rasanz und Vehemenz der Proteste erklären sich aus der Verletzung des Gerechtigkeitsanspruchs. Denn mit der Einführung eines Punktesystems werden nicht "Privilegien" und "Pfründe" beseitigt und "mehr Gleichheit und Gerechtigkeit" geschaffen (Jürg Altwegg, FAZ), wie es aus hiesigen Medien seit Monaten fast unisono tönt, sondern Versprechen gebrochen, an denen sich Menschen in der Arbeit und im Leben orientiert haben. Es geht Angst geht um, denn viele könnten viel verlieren. Und dabei geht es nicht um den Verlust von Privilegien, sondern um kompensatorische Leistungen für Menschen, die unter hohen Temperaturen und Lärm arbeiten oder lebenslang in Nacht- und Wechselschichten eingespannt sind, wodurch ihre Gesundheit und ihr soziales Leben belastet und gefährdet werden.
Andererseits ist offensichtlich, dass es unter den 42 Rentenregelungen solche gibt, die man als "Erbhöfe" bezeichnen kann, weil die sachliche Grundlage für Ausnahmeregelung längst verschwunden ist oder von Anfang an dysfunktional war. Letzteres gilt für Sonderregeln für Militärbedienstete, Angestellte der Pariser Oper, der Müllabfuhr, in der Strom- und Gaswirtschaft oder bei Verkehrsbetrieben. Hier leuchtet für viele Bereiche sofort ein, dass eine Harmonisierung oder eine Reform der Systeme unumgänglich und sinnvoll ist. Das spiegelt sich auch in Umfragen: 76 Prozent der Franzosen halten das Rentensystem für reformbedürftig.
Aber nach denselben Umfragen sind auch 70 Prozent gegen d i e s e Reform und optieren für Streiks, um die Reform zu verhindern. Das Motiv vieler liegt im verlorenen Vertrauen in den Staatspräsidenten und seine Regierung. Das Misstrauen hat eine zweifache Grundlage: es beruht auf der Komplexität der Systeme, die nur noch Fachleute durchschauen und auf der Informationspolitik der Regierung. Sie hat erst am Mittwoch, 11.12.2019, sechs Tage nach dem Generalstreik und ein halbes Jahr nach Beginn der offiziellen Propaganda für eine Rentenreform, über Details des Vorhabens informiert.
Der Soziologe Pierre Bourdieu war 1995 der einzige bedeutende französische Intellektuelle, der sich gegen die radikale Demontage des Sozialstaats wandte, die der damalige konservative Premier Allain Juppé vorhatte. In einer leidenschaftlichen Rede vor streikenden Eisenbahnern warf er dem "Staatsadel" vor, sich den Staat unter den Nagel gerissen und aus dem öffentlichen Wohl eine Privatsache gemacht" zu haben. DGB/Archiv
Schon am Wochenende davor erklärte Premierminister Édouard Philippe, auf Konfrontation baue seine Politik niemals. Er schürte damit Hoffnungen auf einen Teilrückzieher in der Rentenpolitik, nachdem die Taktik der Informationsdrosselung und der Konzentration auf die rundum unbestritten notwendige Reduktion der Sonderreglungen für Renten in Teilbereichen gescheitert war und die Gewerkschaften am Dienstag noch einmal zu Großdemonstrationen mobilisiert hatten.
Es ist kein Zufall, dass im Zusammenhang mit den aktuellen Protesten immer auf den dreiwöchigen Streik der französischen Eisenbahner gegen eine Rentenreform in November/Dezember 1995 erinnert wird. Damals war es der Soziologe und Philosoph Pierre Bourdieu, der gegen konformistische Intellektuelle auftrat, die den neoliberalen "Juppé-Plan" begrüßten und gegen "Privilegierte" polemisierten. Der Plan sah nichts Geringeres vor, als den Sozialstaat zu demontieren, um den Staatshaushalt zu sanieren und die ominöse 3-Prozent-Verschuldungshürde zu meistern. Bourdieu machte den Streikenden und den Gelehrten der "pensée unique" (frei übersetzt: Normalitätsdenkerei) in Wissenschaft und Medien klar, dass die Proteste gegen den Juppé-Plan nur für die Regierenden eine Krise bedeuteten – für Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen dagegen einen Garanten für eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft.
Bourdieu sprach 1995 vor streikenden Eisenbahnern in der Pariser Gare de Lyon und ermunterte sie zur "Wiedereroberung der Demokratie gegen die Technokratie", die der "Staatsadel" im Zusammenspiel mit Banken, Wirtschaftsverbänden und willigen "Doxosophen" (etwa "Meinungshuber", die sich als Experten aufspielen) durchsetzen wollte. Von den prominenten Intellektuellen war Bourdieu damals fast der einzige, der sich mit den kleinen Leuten solidarisierte und deren mühseligen Kampf ums Überleben anerkannte. Dieser Tage stehen in einem Aufruf immerhin 180 Intellektuelle und Künstler zu den Streikenden. Zu den Unterzeichnern gehören Annie Ernaux und Arianne Mnouchkine sowie Etienne Balibar und Thomas Piketty. Wie Bourdieu 1995 wenden sie sich gegen die Denunziation der Streikenden als Privilegierte.
Die mit Spannung erwartete Rede des Premierministers Philippe vom 11.12.2019 brachte keine Überraschungen. Die Regierung hält an der Rentenreform fest. Philippe gab sich sehr moderat, geradezu versöhnlich, zollte den Gewerkschaften Respekt vor ihrer "kämpferischen Kultur" und distanzierte sich selbst von jeder "kriegerischen Rhetorik" bei der Vorstellung des "neuen Pakts zwischen den Generationen". In der knapp eine Stunde dauernden Rede gebrauchte er das Schlüsselwort Privilegien aus der vorangegangenen Propagandakampagne nur ein einziges Mal. In der Sache macht die Regierung einige Konzessionen. Von der garantierten Mindestrente von 1.000 Euro werden vor allem Frauen, Bauern und Kleinunternehmer profitieren. Die zeitlich auf 15 Jahre gestreckte Transformation der 42 Sonderregelungen in ein "einheitliches und gerechtes" Punktesystem wird die "wohlerworbenen Rechte" der vor 1975 Geborenen nicht tangieren. Das gilt auch für die Ansprüche aus beschwerlicher, körperlicher Arbeit und Schichtarbeit. Wer über das 62. Altersjahr hinaus weiterarbeitet, kann Prämien erwarten. Dass diese Konzessionen die Protestierenden überzeugen und für eine Beendigung des Streiks ausreichen, ist nicht zu erwarten.
DGB/Heiko Sakurai
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