Deutscher Gewerkschaftsbund

01.06.2017

Beschäftigungswunder Deutschland?

Die Wirtschaft boomt, die Zahl der Arbeitsplätze steigt. Manche sprechen schon davon, dass fast Vollbeschäftigung erreicht sei. Doch so ist es leider nicht. Zahlreiche Arbeitslose finden keinen Job - weil zu wenig Arbeit für alle vorhanden ist. Es gilt daher, Arbeit anders zu verteilen. An guten Ideen dafür, mangelt es nicht, meint Lars Niggemeyer.

Jobangebote auf der Jobmesse

DGB/Simone M. Neumann

Folgt man den öffentlichen Verlautbarungen von Politik und Presse sieht die Lage auf dem Arbeitsmarkt bestens aus: Vollbeschäftigung sei fast erreicht, es vollziehe sich seit zehn Jahren ein Beschäftigungswunder. Eine aktuelle Studie des Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) kommt jedoch zu einem ganz anderen Ergebnis: Das deutsche „Beschäftigungswunder“ basiert zum erheblichen Teil auf einer Zunahme der atypischen Beschäftigung. Prekäre Beschäftigungsformen plus reguläre Teilzeit sind zusammen für 77 Prozent aller seit dem konjunkturellen Tiefpunkt im Jahr 2004 neu entstandenen Arbeitsverhältnisse ausschlaggebend.[1].

Der Beschäftigungsaufbau hat daher nicht zu einer qualitativen Verbesserung des Arbeitsmarktes beigetragen, im Gegenteil: Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2015 39,3 Prozent aller Arbeitnehmer atypisch (Teilzeit, Minijob, Leiharbeit) beschäftigt sind. Zu Beginn der Erfassung durch das WSI – im Jahr 2003 – lag der Anteil nur bei 29,5 Prozent.[2] Zusammengenommen sind 14,1 Millionen Beschäftige betroffen. Addiert man hierzu noch 3,1 Millionen Vollzeitbeschäftigte, die nur befristete Arbeitsverträge haben, sind insgesamt 17,2 Millionen von 36 Millionen abhängig Beschäftigen atypisch erwerbstätig, das sind 48 Prozent, also fast jeder zweite.[3]

Eine neue Form von Arbeitslosigkeit ist entstanden

Quantitativ konnte das Arbeitsvolumen seit 2005 deutlich gesteigert werden. Allerdings hat in den letzten 15 Jahren auch die Zahl der erwerbswilligen Menschen um 1,6 Millionen zugenommen, vor allem durch Zuwanderung. Daher ist das pro Erwerbsperson verfügbare Arbeitsvolumen von 1.300 Stunden im Jahr 2000 auf 1.280 Stunden zurückgegangen. Mehr Beschäftigte teilen sich heute ein pro Kopf gesunkenes Arbeitsvolumen. Die Arbeitslosigkeit ist nicht geringer als im Jahr 2000, sie ist nur anders verteilt. Mehr Menschen sind von einer neuen Form der Arbeitslosigkeit betroffen – in der Sprache der Arbeitsmarktforschung nennt man dieses Phänomen Unterbeschäftigung. Treffender ist es, von Teilarbeitslosigkeit zu sprechen. Die Betroffenen haben einen Teilzeitjob, sie würden aber gerne länger arbeiten. Das IAB hat in einer umfangreichen Studie diese Verlängerungswünsche von Teilzeitbeschäftigten erhoben. Bezieht man diese Ergebnisse auf alle Beschäftigen ergibt sich folgendes Bild:[4] 

-           2,1 Mio. Teilzeitbeschäftigte wollen ihre Wochenarbeitszeit um durchschnittlich 11,3 Stunden erhöhen, das entspricht 1,1 Mrd. Stunden nicht realisiertem Arbeitsvolumen.

-           1,8 Mio. Minijobber wollen ihre Wochenarbeitszeit im Schnitt um 15,4 Stunden erhöhen, das sind 1,2 Mrd. Stunden nicht realisiertes Arbeitsvolumen.

-           Hinzu kommen 2,8 Mio. registrierte Arbeitslose + 984.000 in der Stillen Reserve nach IAB-Konzept. Legt man hier die durchschnittliche Arbeitszeit von Erwerbstägigen als Wunscharbeitszeit zugrunde so ergibt sich ein vorhandenes Arbeitsvolumen von 5,2 Mrd. Stunden.

Auf dem Weg zur Abstiegsgesellschaft

Die Summe des nicht realisierten Arbeitsvolumenpotentials lag damit bei 7,5 Mrd. Stunden. Das entspricht 4,5 Millionen fehlenden Vollzeitarbeitsplätzen. Hieraus lässt sich eine Arbeitslosenquote auf Stundenbasis errechnen: 12,9% des Arbeitsvolumenpotentials der abhängig Beschäftigen wird nicht abgerufen. Damit ist die tatsächliche Arbeitslosenquote ungefähr doppelt so hoch wie die offizielle. Diese aus Beschäftigtensicht schlechte Arbeitsmarktlage wurde von vielen Unternehmern genutzt, um untertarifliche Löhne zu zahlen. Immer mehr Unternehmen haben sich aus tarifgebundenen Arbeitgeberverbänden verabschiedet, inzwischen genießen nur noch 59 Prozent der Arbeitnehmer eine Tarifbindung; im Jahr 1998 waren es noch 76 Prozent. Mit der Erosion des tariflich gesicherten Normalarbeitsverhältnisses geht die Ausweitung des Niediglohnsektors einher. In einer neuen Studie kommt das DIW zu dem Ergebnis, dass seit 1999 die unteren 40 Prozent der Bevölkerung vom Wachstum komplett abgeschnitten sind: Ihr Einkommen ist „sogar zurückgegangen während die realen Einkommen der restlichen 60 Prozent der Bevölkerung deutlich gestiegen sind.“[5] Die Zahlen zeigen klar, dass der deutsche Arbeitsmarkt inzwischen Fundament einer „Abstiegsgesellschaft“ (Oliver Nachtwey) geworden ist.

Graphik zur Leiharbeit

Der Anteil von LeiharbeiterInnen ist bereits beträchtlich. DGB-Einblick 10/2016

Deutschland braucht daher einen Politikwechsel. Der Politik der Prekarisierung muss ein Programm der Guten Arbeit und Vollbeschäftigung entgegengesetzt werden. Dazu sollte zuerst der Arbeitsmarkt neu geordnet werden. Denn die von der großen Koalition verabschiedeten gesetzlichen Regulierungen werden keine grundlegenden Verbesserungen bei Leiharbeit und Werkverträgen bringen. Gleiche Bezahlung für Leiharbeiter nach neun Monaten kommt für die meisten Betroffenen viel zu spät; die neue Überlassungshöchstdauer ist nur arbeitnehmer – und nicht arbeitsplatzbezogen. Somit ist sie ein Anreiz zum Austausch eines Leiharbeiters durch einen anderen.

Neue Ansätze sind dringend nötig

Das Normalarbeitsverhältnis zu Tarifbedingungen muss wieder Standard sein. Daher gehört die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen deutlich vereinfacht, damit einzelne Arbeitgeberverbände sie nicht mehr blockieren können. Die Leiharbeit muss endlich wirksam reguliert werden. Das heißt: gleicher Lohn ab dem ersten Einsatztag, Wiedereinführung des Synchronisationsverbotes, damit verhindert wird, dass Leiharbeitsfirmen Beschäftigte nur für die Dauer eines akquirierten Einsatzes in einem Entleihbetrieb einstellen; eine arbeitsplatzbezogene Überlassungshöchstdauer. Schluss gemacht werden muss auch mit der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen und dem Missbrauch von Werkverträgen und Solo-Selbstständigkeit. Hierzu braucht es einen klaren gesetzlichen Kriterienkatalog sowie Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte. Für alle Formen abhängiger Beschäftigung muss die Sozialversicherungspflicht ab dem ersten Euro gelten.

Höheres Wachstum allein reicht nicht
Im Zentrum des Politikwechsels muss die Rückkehr zu einer Wirtschaftspolitik stehen, die gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge betrachtet. Nicht der einzelne Arbeitslose ist individuell für seine Lage verantwortlich, sondern es ist zu wenig Arbeit für alle vorhanden. Der Privatsektor gibt insgesamt zu wenig Geld aus, um Beschäftigung zu schaffen. Gleichzeitig ist eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen überfällig – zur Beschleunigung der Energiewende, für moderne Infrastrukturen, hochwertige soziale Dienstleistungen und bessere Schulen. Eine entsprechende Investitionsoffensive würde zu qualitativem Wachstum und vielen neuen Arbeitsplätzen führen.

Höheres Wachstum allein reicht jedoch nicht aus, um Vollbeschäftigung zu erreichen. Es gilt auch, Arbeit anders zu verteilen. Denn seit 1975 ist die pro Kopf vorhandene Arbeit um rund ein Viertel geschrumpft, auf faktisch rund 30 Stunden pro Woche. Dennoch arbeiten Vollzeitbeschäftigte heute wie damals unverändert etwa 40 Stunden. Mit kürzeren Arbeitszeiten von Vollzeitbeschäftigten ließen sich auch Arbeitslose und Unterbeschäftigte wieder in den Arbeitsmarkt integrieren.


[1] Karen Jaehrling: Prekäre Arbeit und sozialer Dialog, Vier Fallstudien zu neuen Lösungsansätzen. IAQ Report 4/2016
[2] WSI Datenbank Atypische Beschäftigung, Abruf vom 13.1.2017:  http://www.boeckler.de/pdf/atyp/D.pdf
[3] Zur Zahl der befristet Vollzeitbeschäftigten siehe Statistisches Bundesamt: Mikrozensus 2016, Fachserie 1, Reihe 4.1.1, Seite 83
[4] Gabriele Fischer, Stefanie Gundert, Sandra Kawalec, Frank Sowa, Jens Stegmaier, Karin Tesching und Stefan Theuer (2015): Situation atypisch Beschäftigter und Arbeitszeitwünsche von Teilzeitbeschäftigten, Quantitative und qualitative Erhebung sowie begleitende Forschung, IAB-Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie IAB Kurzbericht 20/2016
[5] Markus M. Grabka und Jan Goebel: Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit, DIW Wochenbericht Nr. 4 2017, Seite 76


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Kurzprofil

Lars Niggemeyer
Geboren 1975 in Paderborn
Referent für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik beim DGB Bezirk Niedersachsen/Bremen/Sachsen-Anhalt.
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