Die Ukraine und Russland führen Friedensgespräche. Autor Jeffrey D. Sachs meint, dass Selenskyj – in Abstimmung mit den USA und Europa – ausformulieren und erklären sollte, wie eine Friedensvereinbarung aussehen könnte. Ein Szenario für einen Frieden mit diplomatischen Mitteln.
Am 7. März nannte Russland drei Ziele für seine Invasion in der Ukraine: offizielle ukrainische Neutralität, die Anerkennung russischer Souveränität über die Krim und die Anerkennung der Unabhängigkeit der prorussischen Separatistenregionen in Luhansk und Donezk. USA und NATO haben sich bisher nicht öffentlich über eine endgültige diplomatische Einigung geäußert. Präsident Wolodymyr Selenskyjs Regierung konzentriert sich auf die Bewahrung der nationalen Einheit und den bewaffneten Widerstand gegen Russland. Die Ukraine hat ihre Positionen bisher öffentlich nur bruchstückhaft veröffentlicht. Doch sollte Selenskyj – in Abstimmung mit den USA und Europa, die die Fähigkeit der Ukraine zur Kriegsführung stützen – erklären, wie eine Friedensvereinbarung aussehen könnte.
Was die ukrainische Regierung meiner Meinung nach sagen sollte: Erstens ist die ukrainische Neutralität nicht nur akzeptabel, sondern vernünftig, sofern eine ausgehandelte Friedensvereinbarung ausreichende Sicherheitsgarantien umfasst. Die Neutralität der Ukraine würde dazu beitragen, die NATO und Russland voneinander zu trennen – ein positives Ergebnis für alle Beteiligten und für die Welt. Die Ukraine kann als Nicht-NATO-Land prosperieren, genau wie Österreich, Zypern, Irland, Malta, Finnland und Schweden das tun.
Doch wer sollte diese Neutralität garantieren? Aus meiner Sicht sollte das der UN-Sicherheitsrat tun, und zwar unter anderem durch Stationierung einer internationalen Friedenstruppe. China in diese Übereinkunft einzubeziehen wäre stabilisierend. China wird durch diesen Krieg in Mitleidenschaft gezogen, stimmt jedoch Russlands Ablehnung der NATO-Erweiterung zu und lehnt eine ähnliche US-geführte Bündnispolitik in Asien ab. China würde meiner Einschätzung nach ein an eine Nichterweiterung der NATO geknüpftes Friedensabkommen unterstützen und Russland dazu ermutigen, dies zu akzeptieren.
Zweitens würde die Krim Russland faktisch überlassen werden. Die Geschichte dieses Problems ist bekannt, und alle wissen um die zentrale Rolle der Krim für Russlands Marinemacht. Die Ukraine und der Westen sollten zustimmen, die Fortsetzung des Status quo russischer Kontrolle über die Krim zuzulassen, auch wenn die Besetzung der Halbinsel 2014 illegal war. Die Krim würde damit zu einem „eingefrorenen“ Konflikt, aber sie wäre kein Kriegsgrund mehr.
Drittens sollte die Ukraine der Autonomie der abtrünnigen Donbass-Regionen zustimmen, so wie sie im zweiten Minsker Übereinkommen von 2015 vorgesehen war, und zugleich Forderungen nach deren kompletter Unabhängigkeit ablehnen. Diese Autonomie sollte bis Ende 2015 in die Verfassung der Ukraine aufgenommen werden, doch wurde das zweite Minsker Abkommen nicht umgesetzt. Der Autonomiestatus kann noch immer die Grundlage für eine Beilegung der regionalen Probleme bilden.
Um den Friedensprozess zu beschleunigen und die öffentliche Unterstützung in den USA und Europa aufrechtzuerhalten, ist es wichtig, dass die Selenskyj-Regierung in Abstimmung mit den USA und Europa klare und vernünftige Positionen einnimmt. Doch argumentieren einige Kommentator*innen und Politiker*innen in Kiew, Washington, Brüssel, Warschau und anderswo vehement gegen jede Übereinkunft, die den hier vorgebrachten Linien folgt. Sie drängen die Ukraine, sich Forderungen nach Neutralität keinesfalls zu unterwerfen; dies würde einer Kapitulation gleichkommen. Sie glauben an einen Sieg über Putin, nicht an die Diplomatie – eine Sicht, die US-Präsident Joe Biden in seiner jüngsten Rede in Warschau zum Ausdruck brachte.
Dieser Ansatz ist ein schwerer Fehler. Er fordert zu einer Fortsetzung des Krieges heraus. Biden sprach von der „Notwendigkeit, uns für den langen vor uns liegenden Kampf zu stählen“. Doch könnte ein langer Kampf die Ukraine in Trümmer legen und einen umfassenderen Krieg auslösen. Indem sie öffentlich einer Neutralität zustimmten, würden die Ukraine und ihre Unterstützer dagegen dazu beitragen, den Krieg zu beenden. Die Vorstellung, dass die Zeit für die Ukraine spielt, ist verantwortungslose Zockerei.
Es ist unwahrscheinlich, dass Putin in der Ukraine schnell besiegt werden würde; russische Streitkräfte scheinen ihre Kontrolle über den Donbass zu konsolidieren. In ähnlicher Weise ist die womöglich von Teilen der US-Regierung geteilte Annahme, dass Putin in Kürze gestürzt werden würde, gefährliche Spekulation und keine Basis für politisches Handeln. Putin hat mehr als genug Feuerkraft, um die Ukraine und vieles mehr zu vernichten, und verfügt vermutlich über ausreichend Stehvermögen, um das durchzuziehen.
Trotzdem glauben einige, dass es gefährlicher ist, mit einem mörderischen expansionistischen Feind Kompromisse einzugehen. Sie verweisen auf die 1938 gegenüber Hitler gemachten Zugeständnisse, die diesen nur ermutigten, weitere Länder zu besetzen. Doch anders als die Akzeptanz der Zerschlagung der Tschechoslowakei in München würde eine diplomatische Übereinkunft in der Ukraine nicht auf einseitige Zugeständnisse im Namen des Friedens hinauslaufen. Sie sollte einen vollständigen Rückzug Russlands aus der Ukraine, eine glaubwürdige Garantie ukrainischer Souveränität und territorialer Integrität und die Umsetzung der Autonomiemaßnahmen für den Donbass entlang in der Vergangenheit vereinbarter Linien umfassen. Am wichtigsten ist, dass die Nichterweiterung der NATO kein Zugeständnis ist. Die Ausweitung der NATO auf die Ukraine hätte nie auf dem Tablett stehen sollen. Sie aufzugeben könnte letztlich zu einer insgesamt sehr viel klügeren Sicherheitsarchitektur für Europa führen.
Jede Einigung sollte die Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine mit umfassen. Im Allgemeinen wurden Länder bisher nicht für den Wiederaufbau dessen herangezogen, was sie in schamloser Weise zerstört haben. Doch Russland muss einen erheblichen finanziellen Beitrag zum Wiederaufbau der Ukraine leisten. Das sollte keine Reparationen per se bedeuten, sondern vielmehr Russlands Beteiligung an einem multilateralen Finanzierungsmechanismus. Der Internationale Währungsfonds wäre der richtige Ort dafür. Im Zusammenhang eines Friedensabkommens sollte sich Russland verpflichten, gegen eine Rücknahme von Sanktionen einige seiner eingefrorenen Devisenreserven hierfür einzusetzen. Die USA und Europa sollten zudem einen Teil der ihnen neu zugeteilten IWF-Sonderziehungsrechte (die Reservewährung des Fonds) für den Wiederaufbaufonds umwidmen.
Weder Ukraine noch NATO sollten ihre politischen Strategien auf die unwahrscheinliche Prämisse einer russischen Niederlage gründen. Die Ukraine könnte sehr wohl zerstört sein, bevor das passiert. Wenn sich die militärische Lage wirklich gegen Putin wenden sollte, könnte er einen Atomkrieg vom Zaun brechen. All dies macht es zur zwingenden Notwendigkeit, dass die Ukraine und die NATO jetzt überzeugende, besonnene und vernünftige Friedensbedingungen formulieren. Je rascher derartige Bedingungen vereinbart werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir eine Entwicklung hin zu einem dritten Weltkrieg vermeiden.
Aus dem Englischen von Jan Doolan / © Project Syndicate 2022
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.