Mehr Markt, weniger Moral? Das sei nötig, glauben marktradikale Liberale. Irrtum! Nicht der Markt trägt die Wirtschaft, sondern der Staat, der Gemeinwohlentscheidungen trifft. Die Marktoperationen sind das Sahnehäubchen oben drauf. Es gibt keine Wirtschaft, die ohne moralische Grenzen existieren kann.
Von Robert Misik
Ohne gute Straßen, Fahrradewege, Bahntrassen und Beleuchtung kann kein Unternehmen überleben. Das ist die Fundamentalökonomie des Alltags. DGB/Tobias Sieben/Flickr/CC BY-NC 2.0
Stellen wir uns für einen Augenblick eine junge Frau vor, die bei einem wirtschaftsliberalen Think-Tank in der Medienabteilung arbeitet, und führen wir uns ihren Tagesablauf vor Augen. Morgens um Sieben klingelt der Wecker, sie schaltet das Licht an, trottet ins Bad, nimmt eine Dusche. Danach macht sie das Essen für die Kinder fertig, checkt vielleicht noch etwas für die Pflegerin der hilfsbedürftigen Mutter, kurz darauf gehen alle aus dem Haus. Die Kinder werden zur Schule gebracht, danach hüpft die Angestellte in die S-Bahn ins Stadtzentrum, erreicht um neun Uhr Büro, schaltet den Computer ein und erklärt auf Social Media, dass der Staat immer ineffizient ist.
Dabei hat sie in den ersten zwei Stunden ihres Tages das getan, was die meisten Bürger in Europa tun. Sie hat "Güter und Dienstleistungen in Anspruch genommen, die von mehr als sechs separaten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen abhängen, die zusammen die alltägliche Infrastruktur des zivilisierten Lebens ausmachen: Stromversorgung, fließend Wasser, Abwasserkanalisation, vom Einzelhandel bereitgestellte Lebensmittel, ins Haus geliefertes Gas, Telekommunikation (Festnetz und mobil), Pflege, Bankdienstleistungen, die Wartung langlebiger Konsumgüter, Bildung und öffentlicher Nahverkehr." So beschreiben es zu Recht die Autoren des gerade vom Foundational Economy Collective herausgegebenen Buches "Die Ökonomie des Alltagslebens". Dennoch glaubt unsere PR-Frau vielleicht wirklich, dass der Staat ein Moloch ist, der nur ineffizient ist und den Bürgern ihr Geld aus der Tasche zieht.
Wahrscheinlich nehmen ja die meisten Menschen spontan an, dass "die Wirtschaft" der privatwirtschaftliche organisierte Teil der Ökonomie sei, der innovativ ist und in dem der Stachel der Konkurrenz zur Wohlstandsmehrung führt. Wenn man es recht betrachtet, ist das allerdings Unfug. Denn es sind zu einem ganz erheblichen Teil die öffentlichen Infrastrukturen, die die Wirtschaft tragen, oder kurz und knapp gesagt: die erst ermöglichen, dass im privatwirtschaftlichen Sektor irgendetwas Sinnvolles zuwege gebracht werden kann. "Fundamentalökonomie" nennen das die Verfasser, welche "die soziale Infrastruktur für ein sicheres und zivilisiertes Leben" bereitstellt.
Nun ist es so, dass diese Fundamentalökonomien nach völlig anderen Gesichtspunkten funktionieren als die Privatwirtschaft. Zunächst einmal müssen sie gar nicht unbedingt gewinnbringend arbeiten – im Notfall kann man sie durch Steuern finanzieren. Und auch wenn es angebracht ist, sie aufkommensneutral zu führen, also die Kosten durch Abgaben und Gebühren hereinzubringen, wäre es keineswegs ein Indikator für ihr gutes Funktionieren, wenn sie gewinnbringend sind. Infrastrukturnetzwerke leisten ja nur dann ihren Dienst, wenn sie für alle Menschen bezahlbar und allgemein zugänglich zur Verfügung stehen.
Wasser für die Landwirtschaft, für Kraftwerke und Industriebetriebe erschließt und liefert der Staat. Auch um die Abwässer kümmert er sich. DGB/kinek00/123rf.com
Könnten sich nur die Reichen die Abwassergebühren leisten, kippten die Armen das Abwasser in die Straßen. Seuchen würden sich ausbreiten, und es wäre eben gerade nicht der Zweck erfüllt, den ein funktionierendes Gemeinwesen mit Recht erwartet. Gemeinwohl und Funktionstüchtigkeit der Systeme müssen miteinander verbunden sein, oder anders gesagt: Moral und Effizienz. Wolfgang Streeck nennt das die Sektoren, "die umso mehr zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen, je weniger sie nach kapitalistischen Prinzipien organisiert sind und funktionieren", oder, etwas ironisch, den "alltäglichen Kommunismus", der den alltäglichen Kapitalismus trägt.
Die Autoren der Studie erinnern daran, dass diese Fundamentalökonomie "ursprünglich ein moralisches Unterfangen" war. Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung hatten den Zweck darin, "die Gesundheit der Menschen zu gewährleisten". Natürlich haben öffentliche Infrastrukturen, vom Bildungs- bis zum Gesundheits- und Rentensystem auch ihre ökonomisch nützliche Seite. Gerade in einer Marktwirtschaft entwickeln sie das "Humankapital", halten es gesund, sie stabilisieren auch die Konsumnachfrage und haben damit "ökonomisch effiziente" Auswirkungen. Aber das ist sehr selten der primäre Zweck ihrer Existenz und nie ihr alleiniger. So gesehen erfüllt ein Staat wichtige Teile seiner Aufgaben nicht, der wegen Dogmen wie der "Schwarzen Null" wichtige Infrastrukturinvestitionen unterlässt.
Es ist wie mit den Vexierbildern, bei denen man, je nachdem wie man blickt, etwas völlig anderes sieht. Blickt man durch die Brille des neoliberalen Einheitsdenkens, dann sieht man nur privat organisierte Firmen, die tolle Innovationen schaffen, vom Handy bis zum Computer, vom Roboter, bis zum E-Auto und dem Windrad. Und man sieht die Helden des ökonomischen Alltags, die super smarten Forscher, Tüftler und Ingenieure, die dauernd tolles Zeug erfinden, welches dann die Märkte erobert (übrigens: praktisch immer mindestens staatlich anschubfinanziert).
Marx war der wohl schärfste Kritiker der "Anarchie des Marktes" und der neoklassischen Theorien. DGB/Gemeinfrei/Gemälde John Jabez Edwin Mayall
Blickt man aber aus einer anderen Perspektive, dann sieht man die reale menschliche Wirtschaft: Menschen, die putzen, Leitungen legen, die Infrastruktur aufrecht erhalten, die Kinder unterrichten, Kunden irgendetwas verkaufen, das Breitband-Internet in den fünften Stock durch die Kabelstränge ziehen. Menschen, die alte Leute pflegen oder Kranke operieren. Letztlich eine viel breitere, massivere Zahl an Arbeitskräften, die aber nicht täglich etwas Neues erfinden, weil sie ja einfach nur den Betrieb des Vorhandenen aufrechterhalten und gelegentlich da und dort etwas modernisieren.
Es sind lauter falsche Vorstellungen im Umlauf. Dass der Markt für Effizienz und Innovation sorgt. Und: dass er das aber nur tun kann, wenn er weitgehend unreguliert ist. Denn der Markt sei auch Freiheit. Die Konsumenten müssen frei entscheiden, die Unternehmen müssen frei operieren können. Je weniger Regeln umso besser. Neuerdings kommt auch noch dazu im wirtschaftsliberalen Dogmenfundus: all das sollte auch weitgehend ohne "Moralisieren" abgehen, denn "Tugendterroristen" wären drauf und dran eine "Erziehungsdiktatur" zu errichten. Sie raube den Konsumenten irgendwie die Freiheit, weil man ihnen das Fleisch, den Flugverkehr, das Auto schlecht rede, so dass sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie solche Güter oder Dienste am Markt konsumieren.
Nur: Zahlreichen Marktregulierungen liegen "moralische" Grundauffassungen zugrunde. Von der "moralischen Ökonomie" sprach schon der große Sozialhistoriker E.P. Thompson. So ist Kinderarbeit verboten, und wir würden sie auch als moralisch verwerflich empfinden. Obwohl unsere Gesellschaft den freien Markt und das Spiel von Angebot und Nachfrage so feiert, kann man übrigens nirgendwo in unseren Städten Säuglinge kaufen. Komisch, oder? Man könnte doch auch argumentieren, gerade wenn man für Neugeborene einen hohen Preis erzielen kann, zeige das doch, welch hohen Wert wir dem menschlichen Leben zuschreiben. Aber trotzdem würden sogar die meisten Fans von Deregulierung den Vorschlag empört ablehnen, einen Baby-Markt zu etablieren. Senioren will auch niemand die Gesundheitsversorgung entziehen, obwohl die ja nur mehr Kosten verursachen. Und seine Niere darf man auch nicht an den Bestbietenden verscherbeln.
Es gibt mithin genügend Gesetze und Verbote, die mit starken moralischen Empfindungen verbunden sind. Wir haben eine Definition von Gemeinwohl, die eben nicht jede Marktentscheidung dafür feiert, bloß eine Marktentscheidung zu sein. Dass der Markt am besten "amoralisch" funktioniere, also ohne irgendwie geartete ethische Prinzipien, ist ein ahistorischer Unsinn. Von Beginn an war er auch mit moralischen Vorstellungen vom "fairen Preis" und "gerechten Lohn" konfrontiert und durch Moral eingehegt.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.