Deutscher Gewerkschaftsbund

09.09.2021

Solidarität und Freiheit für Belarus

Die Opposition gegen das Regime des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko braucht internationale Solidarität. Wir müssen uns dabei von deren Ideen leiten lassen und zur Not auch mit dem Regime verhandeln. Nur so wird auf Dauer die Demokratie siegen.

 

Von Reiner Hoffmann und Frank Hoffer

Stacheldraht sehr nah mit einer kleinen Schleife darin in Rot-Weiß, den belarussischen Nationalfarben. Im Hintergrund sind dunkel gekleidete Figuren unscharf zu erkennen, vermutlich Soldaten.

Der belarussische Diktator geht gewaltsam gegen die Proteste der Demokratiebewegung in seinem Land vor, doch er kann sie nicht ganz unterdrücken. DGB/Jana Shnipelson/Flickr/Gemeinfrei

Dem deutschen Angriff auf Polen vor 82 Jahren folgte der schlimmste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Am brutalsten wurde dieser Krieg an der Ostfront geführt. Belarus wurde in beispielloser Weise verwüstet. Im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes wurde das Land von der Roten Armee besetzt. Zwei Jahre lang fanden stalinistische Säuberungen und Deportationen statt. 1941 begann mit dem Angriff auf die Sowjetunion eine Zeit beispiellosen Terrors. Die jüdische Bevölkerung wurde fast ausnahmslos vernichtet. Über 2,5 Millionen Belarussinnen und Belarussen wurden von Wehrmacht und SS ermordet. 1944 hinterließ die Wehrmacht verbrannte Erde. 9.000 Dörfer und Städte wurden dem Erdboden gleich gemacht.

Dies ist eine große historische deutsche Schuld.

Die Menschen in Belarus wollen über ihre Zukunft bestimmen

Aber wenn Lukaschenko heute Vergleiche zwischen der Unterstützung Deutschlands für die Demokratiebewegung und dem Nazi-Angriff auf Belarus zieht, ist dies ungeheuerlich. Es ist ungeheuerlich, weil es nicht nur offensichtlich falsch ist, sondern weil es vor allem die eigenen Landsleute, die mit friedlichen Mitteln gegen seine Diktatur protestieren, als Teil einer faschistischen Verschwörung diffamiert.

Der Mut, die Entschlossenheit des friedlichen und kreativen Protests in Belarus hat viele Gewerkschafter*innen in Deutschland und in ganz Europa sehr beeindruckt und bewegt. Die Bilder und Berichte zeigen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten hinter einer einfachen und klaren Forderung vereinigt: Faire Wahlen und Ende der Polizeigewalt. Die Menschen in Belarus wollen über ihre Zukunft, über ihr Leben selbst bestimmen.

Svetlana Tichanovsakaya, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa sind mehr als alle anderen das weibliche Gesicht dieser Protestbewegung. Svetlana Tichanovskaya ist uns allen aus den Medien täglich gegenwärtig, aber wir dürfen Maria Kolesnikowa nicht vergessen! Sie hat sich geweigert ihr Land zu verlassen und wurde nun zu 12 Jahren Haft verurteilt. Inzwischen gibt es über 600 politische Gefangene in Belarus. Darunter auch drei junge Gewerkschafter, die für einen vierstündigen Warnstreik zu zweieinhalb und drei Jahren Haft verurteilt wurden.

Wir dürfen nicht nachlassen in unseren Drängen und der Forderung nach sofortiger Freilassung aller politischen Gefangenen. Und unsere Grenze muss offen sein für jeden und jede von ihnen, die nicht länger unter Lukaschenkos Herrschaft leben kann oder will.

Die russische Oppositionelle Maria Kolesnikowa halb verdeckt von einem Balken, der zu einem Glaskasten gehört, in dem sie steht

Die Oppositionelle Maria Kolesnikowa wurde zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Die 39-Jährige war vor gut einem Jahr im Zuge der Proteste gegen Machthaber Lukaschenko festgenommen worden. Ihr Anwalt Maxim Snak erhielt eine zehnjährige Jahren Haftstrafe. DGB/dah/Screenshot

In den sechs Jahren vor dem 1. September 1939 mussten viele Deutsche aus ihrer Heimat fliehen. Wir kennen unzählige Berichte von der Solidarität, die ihnen entgegengebracht wurde, aber auch von den Mühen, Ängsten und der Verzweiflung, wenn das rettende Visum verwehrt wurde.
Die erste und wichtigste Verantwortung, die wir heute im Gedenken an die Vergangenheit gegenüber den Menschen in Belarus haben, ist, denen die sich gegen Unterdrückung, Diktatur und Polzeiterror wehren, Zuflucht, Sicherheit und Unterstützung zu bieten.

Der Wunsch nach freien Gewerkschaften ist stark in Belarus

Wie kleinmütig sind aber unsere politischen Entscheidungsträger heute. Wo schnelle Hilfe geboten ist, sind langwierige Verfahren fehl am Platze. Es kann nicht sein , dass jemand erst als verfolgt anerkannt ist, wenn die Häscher schon zugeschlagen haben und die Flucht unmöglich wird. Das ist unserer unwürdig und es ist auch ein Versagen vor unserer eigenen Geschichte. Wir dürfen nicht zulassen, dass aus Angst vor der Ausländerfeindlichkeit der AfD, politisch Verfolgten kein oder zu spät ein rettendes Visum ausgestellt wird.

Wie Olga Shparaga in ihrem Buch "Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus" schreibt, kommen die Frauen der Protestbewegung aus ganz unterschiedlichen Milieus: von radikalen Feministinnen bis zu traditionellen Hausfrauen und Rentnerinnen sind alle dabei. In einer solchen breiten Protestbewegung entstehen in allen Gesellschaftsbereichen neue Ideen, Erwartungen und Möglichkeiten. Niemand plant sie, niemand beschließt sie, sie entstehen aus dem Wirbel des Moments. Wir sollten diese Bewegung nicht durch unsere westliche Brille definieren. Das beeindruckende ist ja gerade, dass so viele Menschen, die unter normalen Umständen wenig verbindet, in einer gemeinsamen Aufbruchsstimmung zusammenkommen.

Dies gilt auch für den Wunsch der Menschen sich in freien Gewerkschaften zu organisieren und ihre Interessen im Betrieb und in der Gesellschaft selbst wahrzunehmen. Als deutsche Gewerkschaften haben wir seit Jahren enge Verbindungen zu den unabhängigen Gewerkschaften in Belarus, die aus den Streikbewegungen der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts entstanden sind. Wir beraten uns mit ihnen, wie wir sie am besten in dieser schwierigen Zeit unterstützen können.

Seit Jahren werden sie vom Regime bedrängt und unter Druck gesetzt. Menschen werden in ihrer beruflichen Existenz bedroht, wenn sie sich in freien Gewerkschaften organisieren wollen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat in den vergangen 20 Jahren immer wieder Klagen der unabhängigen Gewerkschaften in Belarus Recht gegeben und die Regierung unmissverständlich aufgefordert, die international vereinbarten Arbeitsstandards, die Menschenrechte am Arbeitsplatz, einzuhalten.

Eine riesige Gruppe Menschen zieht bei einer Demonstration eine lange Straße entlang auf die Kamera zu.

Die Ergebnisse der Wahlen von 2020 ließ Diktator fälschen und löste so die größten Proteste im Land gegen seine über zwanzigjährige Herrschaft aus. DGB/Homoatrox/CommonsWikimedia

Seit den gefälschten Wahlen im vergangen August hat diese Repression allerdings eine neue Dimension angenommen. Das Regime versucht, Streiks schon im Ansatz zu unterdrücken. Streikende Arbeiter und Arbeiterinnen wurden entlassen und verhaftet. Das Management und der belarussische KGB setzen Gewerkschafter*innen unter Druck, damit sie aus den unabhängigen Gewerkschaften austreten. Gewerkschaftsbüros und Wohnungen werden durchsucht, Angehörige bedroht. Während es für Studierende und Akademiker*innen eine Anzahl von internationalen Hilfsprogrammen gibt, ist das Exil für Leute ohne Universitätsabschluss oft ungleich schwieriger. Ihnen fehlen die Kontakte, die Sprachkenntnisse und es gibt keine beruflichen Unterstützungsprogramme für Schlosser, Bergleute oder Verkäuferinnen.

Wirtschaftliche Sanktionen werden nicht viel erreichen

Angesichts dessen, dass Lukaschenko vor keiner Gewalt zurückschreckt und er auf die Unterstützung Russlands zählen kann, stellt sich die Frage, was können und müssen wir tun? Die Opposition im Exil drängt vehement auf verstärkte wirtschaftliche Sanktionen. Nur: Wir sollten uns keine Illusionen machen. Ein zu allem entschlossenes Regime wird von Wirtschaftssanktionen der USA und der EU nicht in die Knie gezwungen, zumal Russland und China nicht mitziehen. Sanktionen bestrafen zwar das Regime, aber sie verschlechtern auch die wirtschaftliche Lage aller und die Menschen verlieren ihre Arbeit. Sanktionen sind letztlich nur erfolgreich, wenn ein Regime sich unter dem Druck zu Verhandlungen gezwungen sieht oder aber die verschlechterte Wirtschaftslage zu einem erfolgreichen Verzweiflungsaufstand führt. Mit beidem ist in Belarus derzeit nicht zu rechnen.
Lukaschenkos eskaliert obendrein den Konflikt mit einer perfiden Strategie: Er lässt Menschen aus Syrien, dem Irak oder der Türkei einfliegen und sie an die litauische oder polnische Grenze bringen, damit sie dann in der EU Asyl beantragen können. Dem darf Europa nicht nachgeben, auch wenn das für die Betroffenen ein schweres Schicksal bedeutet.

Die Opposition wird einen langen Atem benötigen. Dafür braucht sie unsere Solidarität! Dazu gehört die Unterstützung von Exilstrukturen, ebenso wie Hilfe für diejenigen, die weiter im Land sind. Dabei sollte internationale Solidarität nicht bevormunden, sondern helfen und sich in Gesprächen mit unseren belarussischen Freunden und Freundinnen von ihren Ideen und Vorstellungen leiten lassen und mit Rat und Tat tätig werden, wo dies gewünscht wird. Und nicht alles was dabei getan werden kann, sollte publik werden, um Menschen nicht unnötig zu gefährden.

Als Gewerkschafter*innen sind wir Konflikt und Konfrontation gewohnt. In vielen Ländern werden Gewerkschafter*innen verfolgt und auch in Deutschland ist Arbeitgeberaggression gegen Gewerkschafter*innen weiter verbreitet als wir manchmal glauben wollen. Allerdings ist dies kein Vergleich zu den Ländern, in denen es weder Organisationsfreiheit noch funktionierende Gerichte gibt. Für eine Lösung geht es am Ende aber auch immer darum zu sehen, welche Interessen die Gegenseite hat und wie sich ein Kompromiss finden lässt. Wir wollen das Beispiel gewerkschaftlicher Verhandlungen nicht überstrapazieren, aber es wäre falsch jedwede Gespräche auch mit üblen Herrschern auszuschließen. Es bedarf des Drucks, der öffentlichen Mobilisierung und klarer nicht verhandelbarer eigener Position. Es geht nicht um Appeasement, aber ohne Gespräche, Mediation und Kompromisse sind Lösungen in vielen Konflikten schwer vorstellbar.

Lukaschenko vertritt kein zukunftsfähiges Modell. Niemand kann auf Dauer gegen das eigene Volk regieren. Ich habe keinen Zweifel. Die Zukunft ist mit der Protestbewegung, wenn sie ihren vereinigenden Charakter behält und wir auch in unserer Solidarität nicht nachlassen.


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Kurzprofil

Reiner Hoffmann
ist seit 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
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Frank Hoffer
ist Associate Fellow der Global Labour University und lehrt an der Global Labour University Online Academy.
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Gegenblende Podcast

Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

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