Deutscher Gewerkschaftsbund

15.10.2021

Hongkong: Das Ende der freien Gewerkschaften

Die Demokratiebewegung in Hongkong hat einen mächtigen Partner verloren. Ende September gab der Gewerkschaftsbund Hongkong (HKCTU) seine Selbstauflösung bekannt. Zuvor hatten sich bereits viele Mitgliedsgewerkschaften aufgelöst. Der Politikwissenschaftler Bodo Zeuner berichtet über das Ende der freien Gewerkschaften in Hongkong.

Demonstrant in Hongkong

Wie geht es weiter in Hongkong? Die Protestbewegung hat nun einen wichtigen Verbündeten verloren. Der Gewerkschaftsbund Hongkong hat sich aufgelöst. DGB/Flickr/Jonathan van Smits (CC BY-NC-ND 2.0)

Unter Tränen gab Ende September der Co-Vorsitzender Joe Wong die Auflösung der Hong Kong Confederation of Trade Unions (HKCTU) – des Gewerkschaftsbundes Hongkong – bekannt: „Wir möchten um Entschuldigung bitten, dass wir nicht weitermachen können“. Mitglieder hatten jüngst Botschaften erhalten, in denen sie bedroht wurden, ihre Sicherheit war gefährdet. Ein gewaltiger Schlag für alle Beschäftigten in Hongkong, denn die HKCTU vertritt als Dachverband 93 Organisationen der abhängig Arbeitenden. Zu ihren Aufgaben gehört das Organisieren unabhängiger Gewerkschaften, die Beilegung von Arbeitskonflikten und berufliche, organisationsbezogene sowie politische Arbeiterbildung. Die Auflösung wäre das Ende der freien, von Arbeitgebern und Staat unabhängigen, Gewerkschaften in Hongkong.

Solidarität mit den Gewerkschaften in Hongkong

Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) zeigte sich solidarisch mit den Kolleg*innen. Die Generalsekretärin des ITUC, Sharan Burrow, erklärte: „Die ITUC und die gesamte internationale Gewerkschaftsbewegung sind solidarisch mit ihren Schwestern und Brüdern in Hongkong, und wir werden weiterhin dafür kämpfen, dass ihre grundlegenden Rechte respektiert werden.“ Zwar hätten die Hongkonger Behörden der ILO (International Labour Organization) versichert, die ILO-Standards, die für Hongkong anwendbar sind, zu respektieren, aber das sei ein leeres Versprechen geblieben. „Seit ihrer Gründung vor über 30 Jahren hat die HKCTU enorme Beiträge zur Verbesserung des Lebens für die Menschen in Hongkong durch Verbesserungen im Arbeitsrecht, bei den Löhnen und der sozialen Sicherung erreicht. Sie stand Schulter an Schulter mit arbeitenden Menschen in anderen Ländern gegen Repression. Sie hat jetzt keine Wahl als die Selbstauflösung, wodurch die Arbeitenden lebenswichtigen Schutz, der im Völkerrecht garantiert ist, verlieren“, kritisierte Burrow.

50 Selbstauflösungen einzelner Gewerkschaften und Organisationen

Zuvor hatte sich bereits ihre größte Mitgliedsgruppe, die Lehrergewerkschaft HKPTU (Hongkong Professional Teachers’ Union) aufgelöst. Der Publizist, Sozialwissenschaftler und politische Aktivist Au Loong Yu, der viele Jahre lang in Hongkong für international orientierte Organisationen wie Globalization Monitor arbeitete und sich jetzt nach London zurückziehen musste, hat 2021 insgesamt 50 Selbstauflösungen von Gewerkschaften und oppositionellen Organisationen beobachtet. Auf einem Blog der Berliner „taz“ berichtet er, dass sich diese Auflösungen sehr unterschiedlich – chaotisch oder geordnet, unterwürfig oder würdevoll, intern demokratisch oder durch Vorstandsentscheidung, mit oder ohne Hoffnung auf Schonung durch das Regime – vollzogen haben.

Am Ende ist das Ergebnis aber dasselbe: Es gibt keine Hoffnung auf ein Weiterbestehen freier Gewerkschaften in Hongkong, und nicht einmal eine Aussicht auf Schonung ihrer Sprecherinnen und Sprecher. Übrig bleibt nur eine Filiale des von Peking gesteuerten ACFTU (All China Federation of Trade Unions, ACGB). Diese ist wird gesteuert von Arbeitgebern und der Kommunistischen Partei Chinas und verdient den Namen „Gewerkschaft“ nicht.

Erreicht ist damit ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Gebiets, das seit dem chinesisch-britischen Abkommen von 1997 zur Volksrepublik China gehört, aber 50 Jahre lang, bis 2047, nach dem Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ verwaltet werden sollte. Die vollständige Eingliederung Hongkongs in die Volksrepublik scheint vorzeitig näher gerückt.

Protest in Hongkong 2019

Bilder, die um die Welt gingen. Um sich vor der staatlichen Repression zu schützen, gingen hunderttausende Bürger*innen in Hongkong mit Schirmen auf die Straße. DGB/Flickr/Studio Incendo (CC BY 2.0)

Die Entwicklung des Hongkonger Konflikts seit dem Aufstand 2019

Dabei sah vor zwei Jahren alles noch ganz anders aus. Aus einem Protest gegen Pläne der Hongkonger Regierung unter Carrie Lam, ein Gesetz zur Auslieferung von Gegner*innen nach Festland-China zu beschließen, entwickelte sich fast explosionsartig eine Massenbewegung. Zu einer ersten Kundgebung am 31. März 2019 kamen 12 000 Personen. Bei der nächsten Kundgebung am 28. April hatte sich diese Zahl verzehnfacht, und am 9. Juni ging eine Million auf die Straßen, darunter fast die Hälfte unter 29 Jahre alt. Drei Tage später wurde das Gebäude des Hongkonger Legislativrats belagert, und es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Anfang Juli nahm Carrie Lam den Gesetzentwurf zurück. Im August und September 2019 wuchs die Teilnehmerzahl an Protestkundgebungen weiter. Zugleich wurde am 5. August 2019 ein erfolgreicher politischer Generalstreik organisiert, mit Schwerpunkten am Flughafen, in der Luftfahrtindustrie und einigen Universitäten. Die Polizeigewalt gegen Streikende und Demonstrierende verschärfte sich und verhinderte auch eine lineare Ausweitung der Teilnehmerzahlen.

Neubelebung der Hongkonger Gewerkschaftslandschaft

Zugleich veränderten sich die Hongkonger Gewerkschaften. Der Generalstreik vom 5. August 2019 war zwar vom traditionellen Dachverband HKCTU unterstützt worden, dennoch galt dieser Verband vielen Aktiven des Protests als zu schwerfällig. Bis Dezember 2019 wurden 40 neue Gewerkschaften gegründet, die sehr unterschiedliche Größen und Reichweiten hatten. Einige dienten nur dem Zweck, einen Immunitätsstatus für Wahlbewerber zu schaffen, oder sie waren berufsständische Organisationen, darunter so bizarre Vereine wie die Gewerkschaft der Barkeeper und Mixologen. Andere, wie die Gewerkschaft der Krankenhausverwaltungen, spielten eine ernsthafte Rolle bei Streiks. Die Heterogenität der Gewerkschaften verhinderte allerdings weitere effektive Streiks. Einzelne Gewerkschaftsführer*innen wurden verhaftet oder unter Anklage gestellt, ohne dass sich wirksame Proteste dagegen aufbauen ließen.

2020: Die Covid19-Pandemie und das neue „Nationale Sicherheitsgesetz“

Die Covid19-Pandemie und das neue „Nationale Sicherheitsgesetz“ erwiesen sich als letztlich extrem ungünstige neue Rahmenbedingungen für die Protestbewegung. Die Pandemie wurde auf dem Festland nach anfänglichem Versagen der Staatsführung unter Xi Jinping erfolgreich – und mit drastischen Lockdowns – eingedämmt. Das machte auch in Hongkong Eindruck.

Zugleich hatten die Hongkonger Proteste die Parteiführung in Peking provoziert. Der Volkskongress, das All-Chinesische Parlament, beschloss im Mai 2020 ein neues Gesetz zur „Nationalen Sicherheit“ und dehnte dessen Geltung auf Hongkong aus. Nach diesem Gesetz konnten alle Bürger wegen Verbindung zu „ausländischen Mächten“ oder, weil sie für Hongkong Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung forderten, strafrechtlich verfolgt werden.

Außerdem werden die nicht aufgelösten Organisationsreste von Gewerkschaften, etwa der Lehrergewerkschaft HKPTU, nicht nur entpolitisiert. Lehrer*innen und Bibliotheksangestellte werden etwa zur Vermittlung von nationalen Werten und zur Säuberung der Bibliotheken von diktaturkritischen Büchern aus allen Epochen genötigt, wie es in einem Interview von Susanne Wycisk mit einem Hongkonger Lehrer deutlich wird. Neben der direkten Bestrafung entstand so eine Atmosphäre der Einschüchterung und Demütigung für Oppositionelle durch dieses Gesetz. Daneben gab es gesetzwidrige Verschleppung und Ermordung einzelner durch „Mittelsleute“ von Geheimdiensten. Das wirkte.

Exil in London rechts-links gespalten

Ein neues Exil in London baut sich auf – rechts-links gespalten massenhaft flüchteten Hongkonger Regimekritiker*innen ab 2020 nach London, in die Weltzentrale der Kronkolonie. Wie Au Loong Yu und May Wong von Globalization Monitor bei einer Konferenz des FAW am 8. Oktober 2021 berichteten, leben in London mittlerweile rund 100 000 Migrant*innen aus Hongkong. Anfangs hofften die meisten von ihnen auf die Chance einer Rückkehr, inzwischen aber akzeptieren viele das Angebot eines zunächst 5-jährigen Aufenthalts und wollen danach die britische Staatsbürgerschaft annehmen. Auf Ansprüche an das britische Sozialsystem mussten sie verzichten. Wie in ihrer Heimat sind sie politisch gespalten: Am lautesten machen Anhänger der Hongkonger Unabhängigkeit mit Transparenten wie: „Hongkong is not China“ von sich reden. Sie lassen sich von den britischen Konservativen doppelt instrumentalisieren

  • als Beispiel für ein humanes Asylrecht (das sie in Armut stürzt)
  • und als Begründung für „China Bashing“, wie es konservative Parteien (in Deutschland auch viele Grüne) weltweit tun.

Linke Hongkonger Oppositionelle wie May und Au haben es in London schwerer. Sie finden dennoch Unterstützung bei linken Gruppen aus Labour Party und Gewerkschaften.

Literatur: Au Loong-Yu: Revolte in Hongkong, Bertz + Fischer Berlin 2020


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Kurzprofil

Bodo Zeuner
Bodo Zeuner, Dr.phil., war Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Instut der Freien Universität Berlin. Seine Arbeitsgebiete sind u.a. Gewerkschaftspolitik und labour relations.
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