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Mit dieser Schrumpfversion der Kindergrundsicherung lässt sich Familienarmut nicht bekämpfen, schreibt Christoph Butterwegge über den Kompromiss der Bundesregierung.
DGB/Lane Erickson/123RF.com
Der monatelange Streit des Ampel-Bündnisses um die Kindergrundsicherung (KDS) ist nicht gelöst, sondern geht nur in eine neue Runde. Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) und Finanzminister Christian Lindner (FDP), die beiden Hauptkontrahent(inn)en der Auseinandersetzung, wie man die hohe Kinderarmut in Deutschland am wirkungsvollsten bekämpft, haben sich zwar unter Vermittlung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf neue Eckpunkte für die Reform geeinigt. Konfliktstoff gibt es bei der genauen Ausgestaltung des Gesetzes aber noch genug. Bis zur Verabschiedung eines Gesetzentwurfs, die eigentlich bei der Klausurtagung auf Schloss Meseberg in dieser Woche erfolgen sollte, ist es noch weit. Bisher gibt es nur einen faulen Kompromiss, der in den Massenmedien als lang erwarteter Durchbruch gefeiert wird.
Was sich bei der Bürgergeld-Reform nur andeutete und beim Gebäudeenergiegesetz nicht mehr zu übersehen war, hat sich im Streit um die Kindergrundsicherung bestätigt: Innerhalb der Ampel-Koalition fungiert die FDP als Vorfeldorganisation der CDU/CSU-Opposition. Kaum hatte Paus im Januar 2023 ihre Eckpunkte für einen Gesetzentwurf vorgelegt, erhob die FDP zum Teil grundsätzliche Einwände. Lindner erklärte ein solches Projekt wegen zu hoher Kosten, die seine Kabinettskollegin mit 12 Milliarden Euro jährlich veranschlagte, für nicht realisierbar. Man habe für die Familien bereits viel getan. Beispielsweise sei das Kindergeld auf 250 Euro monatlich erhöht worden, und sieben Milliarden Euro pro Jahr mehr stelle man für Familien und Kinder zur Verfügung. Allerdings war die Inflation nach 1945 nie so hoch wie heute, und von der Erhöhung des Kindergeldes hatten Eltern im Transferleistungsbezug nichts, weil es auf den Sozialtransfer angerechnet wird.
Kurz vor der parlamentarischen Sommerpause beschloss das Bundeskabinett den von Lindner entwickelten Haushaltsplan, in dem für die Kindergrundsicherung nur zwei Milliarden Euro als „Merkposten“ vorgesehen waren. Nach der Sommerpause blockierte Paus das von Lindner ins Bundeskabinett eingebrachte „Wachstumschancengesetz“ mit 50 Steuererleichterungen für Unternehmen im Volumen von 6,5 Milliarden Euro. Darin sind Steuergeschenke für Personen mit einem Jahreseinkommen bis zu 10 Millionen Euro (für Verheiratete sogar bis zu 20 Millionen Euro) enthalten, ohne dass sie die geringste Aufmerksamkeit fanden. Geht es um das Wohl der Wirtschaft und von Multimillionären, ist die Bundesregierung generös und fasst auch schnell Beschlüsse. Das hat Paus durch ihr Veto zunächst verhindert, was ihr seitens erboster FDP-Politiker den Vorwurf der Erpressung eintrug. Dabei war dies für sie vermutlich die letzte Chance, eine gesichtswahrende Lösung zu erreichen.
In der Auseinandersetzung um die Kindergrundsicherung erhob die FDP hauptsächlich zwei Einwände, wobei ihre Vertreter*innen nicht vor statistischen Taschenspielertricks zurückschreckten und mit Halbwahrheiten operierten: Erstens wurde ein Kausalzusammenhang zwischen Kinderarmut und Zuwanderung hergestellt, der so nicht existiert. Zweitens wurde behauptet, dass armen Kindern mit mehr Geld nicht geholfen sei, weil es oft gar nicht bei ihnen ankomme und zudem Bildung eher wirke.
Christian Lindner sieht in der Kinderarmut primär ein Importprodukt, das er auf die wachsende Zahl der ab 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlingskinder zurückführt. Hierbei kann sich Lindner auf Angaben der Bundesagentur für Arbeit stützen, wonach die Zahl der Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit, die sich im Grundsicherungsbezug befinden, seither um rund ein Drittel von 1,5 Millionen auf etwa eine Million gesunken ist. Das lässt aber nur bedingt Aussagen über die soziale Lage von Familien mit deutscher Staatsangehörigkeit zu, die nicht mehr im Transferleistungsbezug sind, weil deren Kinder nicht schon dadurch aus der Armutsrisikozone hinausgelangen, dass ihnen kein Bürgergeld mehr zusteht. So gut es für die Familien ist, den von früheren Regierungen verbesserten Kinderzuschlag, den entfristeten Unterhaltsvorschuss und/oder das erhöhte Wohngeld in Anspruch nehmen zu können, um nicht mehr auf das Bürgergeld angewiesen zu sein – erfolgreiche Armutsbekämpfung sieht anders aus!
Darüber hinaus ist es völlig unangebracht, arme Kinder nach ihrer Staatsangehörigkeit zu sortieren, wenn sie hierzulande leben und aufwachsen. Besonders aus wirtschaftsliberaler Sicht hängt die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik stark davon ab, dass nicht ein großer Teil der jungen Generation sozial benachteiligt und wegen der Herkunft seiner Eltern diskriminiert wird. Diese Tatsache durch den Hinweis zu relativieren, dass deutsche Familien weniger Transferleistungen als früher beziehen, ist weder moralisch vertretbar noch ökonomisch klug.
Mit der Behauptung, mehr Geld helfe den armen Kindern gar nicht, weil diese eher Sprachkurse und bessere Bildungsangebote bräuchten, lenkt die FDP von der Tatsache ab, dass die Kindheit in Deutschland nicht zuletzt unter ihrem Einfluss immer stärker ökonomisiert und kommerzialisiert worden ist. Zu einer Zeit, in der Geld für Eltern so wichtig ist wie noch nie, um mit ihren Kindern mal ins Kino oder ins Theater, in den Zoo, in den Zirkus oder auf die Kirmes zu gehen, Einkommen und Vermögen aber auch so ungleich und ungerecht verteilt sind wie noch nie, kann man es nur Zynismus nennen, wenn Regierungsmitglieder leugnen, dass Arme mehr Geld brauchen.
Stattdessen richtet sich der Blick auf Bildung, Sprachförderung und Integration, was den Finanzminister aber nicht davon abhielt, das erfolgreiche Bundesprogramm „Sprach-Kitas“ im Jahr 2023 auslaufen zu lassen, die Bundesmittel für das „Startchancen-Programm“ zur Unterstützung von ca. 4.000 Schulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler*innen zu halbieren und weitere Kürzungen im Bildungsetat vorzunehmen. Wenn die Bildung als Königsweg aus der Armut hingestellt wird, handelt es sich um pure Heuchelei, weil sie einmal mehr missbraucht wird, um Maßnahmen der Umverteilung zu verhindern.
Zu befürchten ist, dass ein großer Teil der 2,4 Milliarden Euro, die bei Einführung der Kindergrundsicherung 2025 zur Verfügung stehen, dafür verwendet wird, um eine Verwaltungsreform durchzuführen, das Antragsverfahren zu digitalisieren und ein Internetportal zur Beantragung von Geldern aus dem Bildungs- und Teilhabepaket einzurichten. Für eine substanzielle Verbesserung der familienbezogenen Leistungen, die in der Kindergrundsicherung gebündelt werden sollen, reicht der genannte Betrag bei Weitem nicht aus. Um allen Kindern in Deutschland ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, wäre mehr nötig als eine Zusammenfassung bisheriger Leistungen.
Wird die Armut der Kinder schon nicht konsequent bekämpft, bleibt die soziale Ungleichheit erst recht bestehen. Kinder aus wohlhabenden und reichen Familien werden gar nicht richtig in die Kindergrundsicherung der Ampel-Koalition einbezogen, sondern ihre Eltern erhalten für sie auch künftig einen höheren Betrag als Normalverdiener*innen. Spitzenverdiener*innen, die den Reichensteuersatz von 45 Prozent und den Solidaritätszuschlag zahlen müssen, entlastet der steuerliche Kinderfreibetrag um 354,16 Euro pro Monat, während Durchschnittsbürger*innen, die das Kindergeld (heute 250 Euro) bzw. künftig den gleich hohen Kindergarantiebetrag erhalten, monatlich 104,16 Euro weniger zur Verfügung stehen. Eigentlich sollte dem Staat jedes Kind gleich viel wert sein. Warum sollen Investmentbanker, Topmanager und Chefärzte im Gegensatz zu Erzieherinnen, Pflegekräften oder Verkäuferinnen statt (den Garantiebetrag) der Kindergrundsicherung für alle Minderjährigen weiterhin einen gesonderten Steuerfreibetrag für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen können?
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.