Am 1. Mai starten die 76. Ruhrfestspiele in Recklinghausen - live und wieder vor Publikum. Im Interview spricht Intendant Olaf Kröck über Haltung, die politische Rolle der Kunst und ob wir im Angesicht von Krieg und Krise überhaupt Theater machen dürfen.
Auf den 76. Ruhrfestspielen zu sehen: "Annette, ein Heldinnenepos" des Staatschauspiels Hannover. Ruhrfestspiele / Kerstin Schomburg
Ich glaube wir müssen sogar! Der Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf die Freiheit. Ich finde es zutiefst wichtig, Freiheitspraktiken jetzt besonders zu leben. Dazu gehört Vergnügung, Zerstreuung, aber auch Auseinandersetzungen mit Kunst und ihren Inhalten. Es ist ein menschliches Bedürfnis, sich zu zerstreuen, aber die Kunst verliert nicht den Blick für Krisen und kann ein Statement setzen: Wir lassen uns nicht unterkriegen. Kunst kennt keine Denkverbote. Sie kann spielerisch und scharf wie ein Schwert sein, und Wahrheiten auf den Punkt bringen. In autoritären Regimen sind Künstler*innen deswegen die ersten, die mundtot gemacht werden. Auch aus Solidarität mit ihnen müssen wir weitermachen.
Ohne dies mit dem Krieg in der Ukraine gleichzusetzen, hat auch die Pandemie Leid gebracht. Es sterben immer noch Menschen an Corona. An diesen Zustand dürfen wir uns nicht gewöhnen. Die Kunst kann uns helfen, wach, empathisch und solidarisch zu bleiben.
Bisher muss bei uns nichts ausfallen, aber wir spüren Nervosität unter unseren osteuropäischen Partner*innen. Die Mehrheit der Menschen dort befürchtet, dass Putin bei der Ukraine nicht Halt macht, wenn man ihn nicht stoppt. In unserem Programm haben wir das ukrainische Ensemble DakhaBrakha. Zunächst war unklar, ob sie kommen würden. Sie haben aber entschieden, ihr Land zu verlassen und als künstlerische Botschafter*innen eine laute ukrainische Stimme in der Welt zu sein. Die Ruhrfestspiele sind dafür ein guter Ort.
Ich bin der Meinung, dass Kunst gar nicht unpolitisch zu sein kann. Sie muss sich zur Welt verhalten und immer eine Position einnehmen, mit der sie die Dinge betrachtet. Im besten Fall entsteht daraus eine Haltung zum Weltgeschehen. Als Leiter einer Kulturinstitution habe ich Gelegenheiten, mich öffentlich zu Themen wie dem Krieg oder der Pandemie äußern zu können.
Die Ruhrfestspiele verpflichten dazu, sich eine Richtung zu geben. Das empfinde ich als Privileg. Zunächst braucht es dafür einen solidarischen und humanitären Blick. Aus diesem Grund mag ich die Festspiele so, denn das Solidarische ist der Gewerkschaftsbewegung ja eingeschrieben wie kein zweiter Gedanke. Mit meiner persönlichen künstlerischen Haltung geht das so gut zusammen, dass ich es nahezu passgenau finde.
Unser Motto hat durch den Krieg an Brisanz gewonnen. Ursprünglich bezog es sich auf die Entsolidarisierungstendenzen, die wir in der Corona-Pandemie bemerkt haben. Wir haben beobachtet, wie demokratische Errungenschaften aufgeweicht wurden. Das bedeutet im schlimmsten Fall den Verlust von demokratischer Freiheit. Corona hat viele Menschen verunsichert. Die Mehrheit der Bevölkerung hat in Solidarität gehandelt und die Maßnahmen mitgetragen. Aber bei einigen schlug es um in Protest, der nicht davor scheute, gemeinsam mit Neonazis auf sogenannten „Anti-Corona“ Demos unterwegs zu sein. Uns hat das gezeigt, dass es ohne Haltung nicht geht. Denn hinter dieser Haltung steht eine Hoffnung auf eine friedliche Welt im solidarischen Miteinander. Das geht nur, wenn wir uns respektieren. Wir müssen uns nicht mögen, aber wir müssen uns gegenseitig aushalten – das muss möglich sein.
Für meine Intendanz lege ich den Anspruch so aus, ja. Die weltweit einmalige Verbindung zwischen Theater und Gewerkschaft verpflichtet uns einen politischen Blick auf die Welt zu haben. Aber mit den Mitteln der Kunst. Das heißt: Es passiert immer mit einer Unschärfe und Uneindeutigkeit. Das ist es, was Kunst kann. Sie kann ästhetische Schule sein und helfen, Ambiguitäten auszuhalten. Ihre Viel-Dimensionalität berührt in jedem Menschen etwas anderes.
Wir zeigen dieses Jahr zum Beispiel „Sibyl“ von William Kentridge. Diese Arbeit erzählt keine lineare Geschichte. Sie hat nicht die eine Aussage. Der weiße Künstler Kentridge und das Schwarze Ensemble sind im Apartheid-Südafrika sozialisiert worden. Das ist zutiefst aufgeladen, aber es macht die Auseinandersetzung damit, was Kolonialgeschichte und die Überwindung dieser Unterdrückung bedeutet, möglich. Da ist etwas überwunden worden in 30 Jahren. Und trotzdem ist diese Welt nicht perfekt. Das kann die Kunst in ihrer Ungenauigkeit – das meine ich positiv – alles darstellen.
Natürlich passt es zusammen. Klar, die Welt hat sich weiterentwickelt. Der Blick auf die Kunst hat sich, wie auch der Begriff des „Arbeiters“, gewandelt. Früher wollten die Festspiele den „Arbeitern Kunst beibringen“. Aus heutiger Sicht ist das ein bisschen überheblich. Es war aber ein ernst gemeintes Anliegen, denn beide Welten waren damals weit voneinander entfernt. Heute bemühen wir uns auf Augenhöhe zu handeln. Bei der Auswahl unseres Programms haben wir immer die Zuschauer*innen im Blick. Die sind vielfältig. Deshalb zeigen wir Großkunst im Tanztheater, Kinder- und Jugendtheater und Kabarett zugleich. Für mich schließt sich das nicht aus. Es bleibt den Besucher*innen überlassen auszuwählen. Wir wissen es ja nicht besser. Wir machen nur ein breites Angebot. Und tatsächlich guckt sich unser Publikum mitunter verrückte Mischungen an – und das ist toll!
In diesem Jahr wieder vor Publikum. Olaf Kröck will "endlich wieder Begegnung" schaffen. Zuschauer*innen im Großen Haus der Ruhrfestspiele. Ruhrfestspiele
Absolut. Es gibt Besucher*innen, die schon mit ihrer Schulklasse, ihren Eltern oder Großeltern da waren. Es gibt ein Traditionsbewusstsein, bei dem es zum guten Ton gehört, zu den Ruhrfestspielen zu gehen. Das ist eine Errungenschaft. Wir stellen unser Programm zudem Betriebsrät*innen vor, die Vorstellungen auswählen und Kontingentkarten für ihre Betriebe kaufen. Mit Bildungseinrichtungen der Einzelgewerkschaften geben wir Theaterseminare. Es gibt einzelne engagierte Gewerkschafter*innen, die sich mit uns zusammentun und engagieren. Gewerkschaftliche Arbeit selbst hat auch einen Blick auf kulturelle Praxis. Da finden wir zusammen.
Ich freue mich, dass wir uns endlich live begegnen können. Es ist bereichernd, wieder im Austausch zu sein. Gemeinsam können wir Begegnungsunsicherheit seit der Pandemie überwinden. Wir haben zudem ein tolles Programm auf die Beine gestellt, das sich so stark wie nie unter dem Festivalmotto bündelt. Sie haben alle eine Haltung zu einem Fragenkomplex und sind mit einer Hoffnung verbunden, die größer ist als nur rein intellektueller Natur. Die wollen Großes, manchmal sogar Spirituelles. Etwas, das nicht einfach in Worte zu fassen ist, eine Art Energie zwischen uns Menschen.
Für mich kann ich sagen, dass es aus dieser empathischen Sichtweise ein so unglaublicher Schock ist, was in der Ukraine gerade passiert. Da sind Glaubenssätze und Weltbilder in Erschütterung geraten. Das spüren gerade viele. Dagegen brauchen wir Orte, die Selbstversicherung erzeugen, die positiv sind.
Das Interview führte Micha Steinwachs
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.