Der Soziologe Armin Nassehi verspricht eine "Theorie der digitalen Gesellschaft". Doch die liefert er nicht. Stattdessen versucht er nachzuweisen, "dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war". Herausgekommen ist dabei empiriefreies Jonglieren und spekulatives Abstrahieren nach dem Motto: Was funktioniert, das funktioniert. Ein systematischer Verriss.
Von Rudolf Walther
In der Welt der Daten und Informationen geht es nicht um die Welt, sondern nur noch um Zeichen für diese, die "letztlich (!) nur noch auf sich selbst verweisen" (Nassehi). DGB/Ion Chiosea/123rf.com
Der erste Satz in Armin Nassehis Buch Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft verspricht ganz unbescheiden: "Dieses Buch will eine soziologische Theorie der digitalen Gesellschaft präsentieren." Im vierten Satz jedoch heißt es dann: "Es hat noch nie recht geholfen, Gesellschaft an nur einem Merkmal festzumachen." Und vier Sätze weiter liest der nunmehr auf allerhand gefasste Leser: "Natürlich ist die Gesellschaft, in der wir leben, keine digitale Gesellschaft in dem Sinne, dass alles, was darin geschieht, sich über die Digitalität einer Technik erschließen ließe." Ginge es nach angesagten Soziologen lebten wir in jeder Saison in einer neuen Gesellschaft – auf die Risiko- folgten die Erlebnis-, die Bürger- und die Wissens- bis zur Uhrzeitgesellschaft, die nach Karlheinz Geißler bald zu Ende geht und die dreifach gesprungene Multi-Options-Gesellschaft ablöst, die allerdings auch nur für kurze Zeit in einem Buch existierte. Der eminente Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann (1917-1998) hielt von derlei "Theorien" gar nichts, denn sie verdanken ihre Existenz vor allem der Tatsache, dass sich Substantive im Deutschen fast beliebig verleimen lassen.
Nassehi geht es auch nicht ernsthaft um die die "Theorie der digitalen Gesellschaft", sondern um den Nachweis, "dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war". Mit der historischen Situierung dieses Immer-schon hält es Nassehi so wie die Systemtheorie mit allem Geschichtlichen – locker-unverbindlich und offen für empiriefreies Jonglieren und spekulatives Abstrahieren. Nassehi schwankt zwischen der "Frühzeit der Moderne" und dem "18./19. Jahrhundert", als Gesellschaften in Zahlen statistisch erfasst und so für Planung und Prognosen aufbereitet wurden. Diese zeitliche Fixierung der „Initialzündung einer digitalisierten Gesellschaft“ ist gelinde gesagt willkürlich.
Heißt es doch bereits im Alten Testament, "aber Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" (Sprüche Salomon 11,21). Und mit Sicherheit ist weder der ägyptische Pyramidenbau, noch der römische Städtebau mit seiner raffinierten Wasserversorgung noch der Bau gotischer Kathedralen denkbar ohne die zahlenmäßige Erfassung von Material- und Arbeitskräftebedarfen, mithin statistischen Erhebungen von Daten und Informationen aller Art. Für die These, dass "der Siegeszug der Digitalisierung in der Gesellschaftsstruktur selbst" der beginnenden Moderne begründet liege, bringt Nassehi keine historisch belastbaren Belege. Seine Hinweise beruhen auf zirkulären Beweisführungen oder der auf der auf Schritt und Tritt anzutreffenden, Argumentationswege verkürzenden Floskel, dies oder jenes sei "letztlich" dem oder jenem geschuldet.
In der Welt der Daten und Informationen geht es nicht um die Welt, sondern nur noch um Zeichen für diese, die "letztlich (!) nur noch auf sich selbst verweisen". "Alle Operationen sind Verdoppelungen der Welt, die letztlich (!) nur auf sich selbst verweisen". Neben zirkulären Beweisführungen sind es Tautologien nach dem Muster von Luhmanns Grundthesen, "jedes System tut, was es tut", "wenn es läuft, dann läuft es", die auch Nassehi bewirtschaftet. Hinter solchen Tautologien verbergen sich Implikationen der Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und ihrer der Neurobiologie entliehenen Antriebsmechanik ("Autopoiesis"/"Selbstschaffung"). Geschichtsphilosophisch grundiert sind sie nicht.
Nassehi beschreibt ein Spiel des unendlichen Bezeichnens mittels Zeichen/Informationen als Verdoppelung der Welt in eine Datenwelt, die nur sich selbst kennt, und die andere Welt, die nur "da" ist. DGB/dah
Wenn Nassehi davon ausgeht, die Beschreibbarkeit der Digitalisierung der modernen Gesellschaft beruhe auf der Grundstruktur eben dieser Gesellschaft – dann ist das ein Zirkelschluss, der in der philosophischen Fachsprache petitio principii heißt. Seine Argumentation beruht unter anderem auf einer affirmativen Lesart der ländlich geprägten Hirtenphilosophie Heideggers. Der behauptete, die moderne Technik, insbesondere die Kybernetik, beseitige "den Unterschied zwischen den automatischen Maschinen und den Lebewesen", denn beide würden "neutralisiert auf den unterschiedslosen Vorgang der Information". Für Nassehi steigt der "Freiheitsgrad" der Einzelnen, weil sich Informationen nur noch auf Informationen und Informationsträger nur noch auf Informationsträger beziehen. Für den Systemtheoretiker ist Geschlossenheit eine Garantie für Offenheit/Freiheit.
In der Datenwelt verschwinden Differenzen in der Sache und eröffnen ein "Spiel des Bezeichnens, das von nun an keine Grenzen mehr hat", meint Nassehi mit Bezug auf Jacques Derrida, der sich ebenfalls in Heideggers "vermurksten" Scheinwelt der "Seinsgeschichte" (Habermas) bewegte. Nassehi bezeichnet dieses als Spiel des unendlichen Bezeichnens mittels Zeichen/Informationen als Verdoppelung der Welt in eine Datenwelt, die nur sich selbst kennt, und die andere Welt, die nur "da" ist. Das ist trivial: Auch Fotografien und Kunstwerke verdoppeln die Welt, aber diese Welt kommt ohne handelnde Subjekte mit Geschichten, Intentionen und Zielen nicht aus. Sprachabhängiges Handeln und sprachbegabte Handelnde reduziert Nassehi forsch auf ein Zusammenspiel von gesellschaftlich und biologisch gesteuerten Prozessen und nennt das „die Geschäftsgrundlage soziologischen Denkens". Sollen von leistungsfähigen Rechnern berechnete Algorithmen überflüssig machen, dass jemand Ja sagt, und erst recht verhindern, dass jemand auf die Idee kommt, Nein zu sagen?
Zeichen, Buchstaben und Wörter „sind zugleich grenzenlos in ihren Möglichkeiten, aber radikal begrenzt auf sich selbst. Ihre Offenheit ist eine Funktion in ihrer "Geschlossenheit" (Nassehi) wie Heideggers "Entschlossenheit" zum Handeln. Wofür und wozu auch immer – auf jeden Fall jenseits von Personen zurechenbarer moralisch-politischer Verantwortung. In einem Vortrag, auf den sich auch Nassehi bezieht, sagte Heidegger am 2. Dezember 1949: "Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen dasselbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern". Funktionierte die Entwicklung vom Traktor und der Melkmaschine zu den Gaskammern in einer geschlossen Datenwelt und ganz ohne Täter, Mittäter und Zuschauer?
Die Lebens- und Arbeitswelt verändert sich konkret schon jetzt. Architekten und Ingenieure besprechen sich etwa in virtuellem Modell. Nassehi jedoch verzichtet lieber auf anschauliche Beispiele und eine Anwendung seiner Theorie auf die realen Veränderungen. DGB/Simone M. Neumann
20 Jahre nach Luhmanns Tod sind es nur noch Hard-core-Luhmanninis von Schlage Armin Nassehis oder Dirk Baeckers, die der seit der Bankenkrise in eine Sackgasse geratenen Systemtheorie die Treue halten. Die Bankenkrise hat ganze Buchregale mit systemtheoretischer Sonntagsprosa zu Makulatur gemacht: "Die Politik kann die Wirtschaft bestenfalls in der Weise beeinflussen, dass sie ihr Geld entzieht“, hieß es bis vorgestern bei den Systemtheologen. Und heute darf die Politik zahlen und bürgen für das, was "dem System" im Lauf der Jahre so eingefallen ist zur Steigerung der Renditen und zum Ruin ganzer Länder und Völker.
Diejenigen, die gestern noch vor Eingriffen in den vermeintlichen Selbstlauf des Marktes warnten, behaupten nun großspurig, die Deregulierung, die sie selbst predigten, sei eine Illusion gewesen. Gleichzeitig halten sie an ihrem politischen Konformismus fest und bezeichnen Kapitalismuskritik wie alle Kritik und Emanzipationsansprüche für systemisch nicht vorgesehen und obsolete Träumereien „alteuropäischer“ Subjektivitätskonstrukte. Denn: "Das System hat perfekt funktioniert. Und es hat bewiesen, dass wir es nach wie vor mit einem Kapitalismus zu tun haben, der selbstverständlich Zukunftswetten abschließt (…) Überwänden wir den Kapitalismus, hätten wir keinen Korrekturmechanismus mehr." (Dirk Baecker).
Diese Prosa folgt wie jene Nassehis bis in die Diktion den ganz alten theologisch-politischen Rechtfertigungsmustern: Gott (oder das System der funktionalen Differenzierung) schuf die beste aller Welten. Nassehi geht es um den Nachweis, dass "das Soziale eben nicht mehr als etwas vorgestellt werden kann, was in erster Linie von den Intentionen und dem Wollen von Akteuren abhängt", sondern von Mittlern und Vermittlern ("institutionellen Generatoren"), die andere Mittler dazu bringen, zu tun, was sie tun sollen. Und es geht ihm auch nicht um die Rettung von Privatheit, die "es nie gegeben hat", vor dem Zugriff durch Big Data, denn "Big Data ist letztlich (!) nur eine Vervollkommnung der quantitativen Erfassung und Vermessung der Gesellschaft, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte" – oder vielleicht auch früher oder später.
Es fragt sich, wofür Theorien gut sind, die nur noch dazu dienen, "an sich selbst Halt" (Luhmann) zu suchen und zu finden. Die Rettung aus dem selbst gegrabenen Loch funktionierte schon beim Baron von Münchhausen nicht so richtig. Es ist sicher zu begrüßen, dass Nassehi bemüht ist, "Künstliche Intelligenz" zu "entdämonisieren". Aber zu den wirklich mit ihr verbunden Problemen, Chancen und Gefahren hat er nur abgestandene Standardfloskeln im Repertoire, dass die Welt "letztlich (!) nicht algorithmisch strukturiert ist" und "die Künstliche Intelligenz eben nur kann, was sie kann".
C. H. Beck
Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Verlag C. H.Beck, München 2019, 352 Seiten, 26 Euro.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.