Die Bundesregierung will Startup-Unternehmen fördern. Ein aktueller Gesetzentwurf aus den FDP-geführten Ministerien der Finanzen und der Justiz droht nun zu einer Gefahr für die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten zu werden, wie Thomas Fischer und Rainald Thannisch zeigen.
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„Der Finanz- und Start-up-Standort Deutschland braucht ein Update“, twitterte Christian Lindner am 4. April 2023 und lieferte den liberalen Lösungsansatz wenige Tage später nach. Es handelt sich um den am 12. April 2022 gemeinsam vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) und dem Bundesministerium der Justiz (BMJ) vorgelegten Referentenentwurf eines „Zukunftsfinanzierungsgesetzes – (ZuFinG)“.
Der sehr umfangreiche Gesetzesentwurf enthält auf 143 Seiten ein ganzes Füllhorn an wirtschaftsliberalen Vorstellungen. Dazu sollen insgesamt 29 Gesetze und Verordnungen geändert werden, eine durchaus bemerkenswerte Anzahl. Es wäre viel zu sagen zu diesem bunten Reigen an gesetzgeberischen Maßnahmen, der letztlich nur durch einen roten Faden zusammengehalten wird: Der Förderung des Kapitalmarktzugangs und des Eigenkapitals von Startups.
Ob das Gesetz dieses Ziel erreichen wird, darüber kann man trefflich streiten. So wurde aus gewerkschaftlicher Sicht eingewandt, dass dem Referentenentwurf der Fehlschluss zugrunde liege, dass eine Stärkung des Kapitalmarkts das Problem der privaten Investitionsschwäche lösen könne. Fraglich ist auch die Treffsicherheit mancher Änderungsvorschläge. So wollen die Ministerien erklärtermaßen vor allem die Startups fördern, nutzen dafür jedoch Instrumente, die über Startups hinaus breite Kreise der Wirtschaft betreffen.
Irritierend ist zudem, dass der Referentenentwurf die gesetzliche Mitbestimmung ausblendet. Augenscheinlich wird dies insbesondere hinsichtlich ihrer Schnittstelle zur materiellen Beteiligung der Arbeitnehmer*innen, also deren Beteiligung am Kapital eines Unternehmens, beispielsweise durch Belegschaftsaktien. Diese Mitarbeiter*innen-Kapitalbeteiligung, kurz: MKB, soll durch das Gesetz massiv gefördert werden. Wir wissen jedoch aus Wissenschaft und Praxis, dass eine klare Voraussetzung für nachhaltig erfolgreiche Modelle der materiellen Mitarbeiter*innenbeteiligung ihre Einbettung in eine beteiligungsorientierte Unternehmenskultur ist – und gerade dafür steht ja die gesetzliche Mitbestimmung. Es wäre daher folgerichtig gewesen, die materielle Beteiligung im Gleichklang mit der gesetzlichen Mitbestimmung zu stärken. Dafür spräche auch, dass MKB in der Praxis durch Betriebsvereinbarungen geregelt wird.
Stattdessen jedoch preschen die liberalen Ministerien mit einer einseitigen und aus Sicht des DGB deutlich überhöhten Förderung der MKB voran, während die dringend notwendige Stärkung der gesetzlichen Mitbestimmung weiterhin ihrer gesetzlichen Umsetzung harrt.
Besonders problematisch ist zudem, dass das ZuFinG Regelungen beinhaltet, die die gesetzliche Mitbestimmung, hier konkret die Unternehmensmitbestimmung, ernsthaft gefährden.
Dabei steht die gesetzliche Mitbestimmung im Aufsichtsrat, ein großes Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in der Praxis durch Erosion bereits stark unter Druck. So zeigen aktuelle Daten der Hans-Böckler-Stiftung, dass sich derzeit insgesamt mindestens 424 Unternehmen mit zusammen mindestens 2,4 Millionen Beschäftigten der paritätischen Mitbestimmung im Aufsichtsrat entzogen haben oder ihre Anwendung gesetzeswidrig ignorieren. Zu den wesentlichen „Vermeidungskonstruktionen“ gehört die Umwandlung einer bestehenden Aktiengesellschaft in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE). Die Daten der Hans-Böckler-Stiftung zeigen, dass bei fünf von sechs in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat fehlt.
Es spräche also vieles dafür, diese Lücken im Recht der SE schnell zu lösen. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien ist dazu vermerkt: „Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt).“
Stattdessen sieht das ZuFinG beispielsweise mit den Regelungen zu einer geplanten Börsenmantelaktiengesellschaft sowie zur Einführung von Mehrstimmrechten genau solche Vorgaben vor, die die Attraktivität der SE gerade für kleinere und mittlere Unternehmen erhöhen würde. Und damit genau für diejenigen Unternehmen, die diese Rechtsform bislang fast ausschließlich dazu nutzen, um sich der Unternehmensmitbestimmung zu entziehen.
Um was geht es genau? Zum einen wollen BMF und BMJ im deutschen Recht die Gründung einer Börsenmantelaktiengesellschaft ermöglichen, einer leeren Hülle ohne operatives Geschäft, die gegründet wird, um Kapital einzusammeln und damit ein nicht-börsennotiertes Unternehmen zu übernehmen. Diese Gesellschaft kann sowohl die Rechtsformen der deutschen AG als auch die Rechtsform der SE haben.
Damit jedoch gleicht die Börsenmantelaktiengesellschaft dem seit vielen Jahren bekannten Phänomen der arbeitnehmerlosen „Vorrats-SE“, bei denen die eigentlich für die SE geltenden Regelungen zum Schutz der Unternehmensmitbestimmung oftmals ins „Leere“ laufen, weil ja zum Zeitpunkt der Gründung noch keine Arbeitnehmer*innen vorhanden sind, die sich an den vorgesehenen Verhandlungen beteiligen könnten.
Anstatt das Phänomen der Vorrats-SEs anzugehen und Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer*innenrechte zu schaffen, legitimieren BMF und BMJ diese rechtlich in hohem Maße umstrittene Praxis. Dabei ignorieren sie zudem, dass die Anwendung der Mitbestimmung in Vorrats-SEs derzeit Gegenstand von Gerichtsverfahren ist, u.a. eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH, vorgelegt durch das Bundesarbeitsgericht. Wieso warten BMF und BMJ diese Entscheidung nicht ab, ehe sie weitere Fakten schaffen?
Im Fokus stehen auch die Mehrstimmrechten im Aktiengesetz. So soll es in Zukunft möglich sein, dass sich die Gründer*innen eines Unternehmens vor dem Börsengang darauf verständigen, dass sie für ihre eigenen Anteile für einen Zeitraum von 10 Jahren das Zehnfache der Stimmrechte ausüben dürfen.
Weil die Einführung von Mehrstimmrechten jedoch auch für die SE gilt, steht zu befürchten, dass sich verantwortungslos handelnde Eigentümer*innen zukünftig nicht nur der demokratischen Kontrolle durch unabhängige Arbeitnehmervertreter*innen im Aufsichtsrat entziehen können, sondern durch die Einführung von Mehrstimmrechten auch der Kontrollfunktion der anderen Aktionär*innen: Es droht in der Konsequenz nicht weniger als ein doppelter Kontrollverlust bezogen auf die Unternehmensführung.
Es steht daher zu befürchten, dass diese Regelungen aus dem ZuFinG als „Brandbeschleuniger der Mitbestimmungsvermeidung“ wirken könnten, wenn der Gesetzgeber nicht gleichzeitig Regelungen zum Schutz der Unternehmensmitbestimmung vorlegt.
Der DGB fordert daher, von der Einführung einer Börsenmantelaktiengesellschaft abzusehen und die geplante Einführung von Mehrstimmrechten in der vorliegenden Form zu verwerfen. Stattdessen könnte überlegt werden, die Stimmrechte von Aktionär*innen auf der Hauptversammlung generell anhand der Haltedauer ihrer Aktien zu gewichten und somit über alle Branchen- und Unternehmensgrößen hinweg Anreize für ein langfristiges unternehmerisches Engagement zu setzen, wie es der DGB jüngst gegenüber der EU-Kommission angeregt hat.
DGB/Heiko Sakurai
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