Deutscher Gewerkschaftsbund

29.04.2020

Corona-Krise und Machtkampf in der Türkei

Es scheint vernünftig: Präsident Erdogan entlässt Häftlinge, damit sich in den überfüllten Gefängnissen, nicht das Coronavirus ausbreitet. Doch statt politischer Gefangener wie Journalisten, Gewerkschafter oder Kurden entlässt er Mafia-Gangster, die der faschistischen MHP und dem Präsidenten nahestehen.

 

Von Frank Nordhausen

Eine Flucht von vergitterten Gefängniszellen, die nach hinten unscharf wird. Zwischen den Gittern sind Hände zu sehen, die die Gitterstäbe umfassen.

In der Türkei sitzen zahllose politische Gefangene in Haft. Sie werden auch während der Corona-Krise nicht entlassen, auch wenn ordinäre Kriminelle jetzt zu Tausenden frei kommen, weil die Gefängnisse überfüllt sind. DGB/Archiv

Corona macht's möglich: In der Türkei werden bis Ende Mai fast ein Drittel der rund 300.000 Häftlinge aus den Gefängnissen in die Freiheit oder einen Hausarrest überführt, darunter Tausende der übelsten Kriminellen. Seither häufen sich Berichte, wonach entlassene Gewalttäter erneut schwere Verbrechen verüben. Verantwortlich dafür ist das Parlament in Ankara, das vor zwei Wochen mit der Mehrheit der regierenden islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und der mit ihr verbündeten rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ein entsprechendes Amnestiegesetz verabschiedet hatte. Das Gesetz wurde offiziell beschlossen, um die überfüllten Gefängnisse in der Corona-Zeit um 90.000 Insassen zu entlasten – prinzipiell ein sinnvoller Schritt.

Der Coronavirus ist nur ein Vorwand für ein Amnestiegesetz, das Erdogan die Macht erhält

Doch es wurden nicht nur unzählige Gewaltverbrecher auf die Gesellschaft losgelassen – während eine riesige, für die Allgemeinheit harmlose Gruppe von der Amnestie völlig ausgenommen ist: mehr als 50.000 politische Häftlinge und regimekritische "Gesinnungsgefangene", von denen viele für bloße Meinungsäußerungen hinter Gittern sitzen. Unter ihnen zahlreiche Akademiker, Gewerkschafter und Journalisten, Menschenrechtler, Kurden, Anhänger der Gülen-Bewegung und Oppositionspolitiker. Sie stehen meist unter Terroranklage, dem Standardvorwurf gegen Dissidenten. Das ist Erdogans Politikstil: Wer für ihn ist, kann mit Hilfe rechnen, wer ihn kritisiert, mit brutaler Härte. Deshalb werden regimetreue Gewaltverbrecher begnadigt, aber unter lachhaften Vorwürfen inhaftierte Oppositionelle wie der lungenkranke Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas einem unkalkulierbaren Gesundheitsrisiko aussetzt.

Gesetzlich gibt es für die Ungleichbehandlung keine Rechtfertigung, denn die türkische Verfassung sieht für Häftlingsamnestien nach Erdogans eigener Aussage vor, dass sie keine Straftaten gegen Menschen, sondern nur "gegen den Staat" umfassen dürfen. Nun geschieht das Gegenteil, denn begnadigt werden nur Straftaten gegen Menschen. Entlarvenderweise steht auch das Wort Corona im 17-seitigen Gesetzestext nur ein einziges Mal – denn um das Virus geht es in Wahrheit nicht. Es geht um eine Entwicklung, die Türkei-Beobachter und -Freunde zutiefst verstören und alarmieren muss.

An dem umstrittenen Amnestiegesetz haben AKP und MHP schon lange vor dem Covid-19-Ausbruch gearbeitet. Je mehr Häftlinge jetzt entlassen werden, desto klarer wird, dass nicht nur Diebe, Erpresser und Betrüger, sondern auch Gewalt- und Schwerverbrecher, Korruptionstäter, gefährliche Mafiosi und unter bestimmten Bedingungen sogar Totschläger freikommen.

Schwarzweißes Porträt von Erdogan als Wandgemälde.

Erdogan sieht seine Macht mehr denn je bedroht, vor allem durch die schlechte Wirtschaftslage. Die Covid-19-Pandemie verschärft die Lage noch, so dass er keinen Lockdown verhängt, weil er einen Zusammenbruch der Wirtschaft fürchtet. Diese Politik gefährdet viele Leben. DGB/Thierry Ehrmann/Flickr

Das skandalöse Tun erfolge mit voller Absicht, sagt Mithat Sancar, der Co-Chef der linken, prokurdischen Oppositionspartei HDP, die sich gemeinsam mit der sozialdemokratischen CHP vergeblich gegen das Sondergesetz stemmte. Die Straftäter-Amnestie sei der MHP zu verdanken, die im türkischen Parlament eine Allianz mit Erdogans AKP bildet und ihr als Mehrheitsbeschafferin dient. In Wahrheit sei das Amnestiegesetz nicht humanitär gedacht, sondern ziele wesentlich auf die Freilassung verurteilter Straftäter aus der organisierten Kriminalität, ein langjähriger Herzenswunsch des MHP-Chefs Devlet Bahceli. Tatsächlich hatte Erdogan das Vorhaben wegen Widerstands in der Öffentlichkeit in der Vergangenheit blockiert, Corona öffnete die Tore. „Es ist ein MHP-Gesetz, Bahceli hat es ausgeheckt und durchgesetzt“, sagt Mithat Sancar.

Von der Corona-Amnestie profitiert die faschistische MHP, die Partei der "Grauen Wölfe"

 Die faschistische MHP ist in Deutschland besser bekannt unter dem Namen ihres paramilitärischen Arms "Graue Wölfe". Zu ihrer Klientel gehören weitere kriminelle Gangs mit Verbindungen zu geheimen ultranationalistischen Netzwerken aus Militär, Geheimdiensten, Rechtsextremen und Mafiabossen, die in der Türkei als „tiefer Staat“ bekannt sind. Es ist wohl kein Zufall, dass viele begnadigte Häftlinge bei ihrer Freilassung den „Wolfsgruß“ der Grauen Wölfe zeigten. Und obwohl es offiziell hieß, dass Mörder, Vergewaltiger und andere Schwerkriminelle nicht amnestiert würden, enthält das Gesetz viele Schlupflöcher. Ein amnestierter Gewaltverbrecher verübte schon einen Tag nach seiner Freilassung erneut einen Mord.

Es spricht für eine Abgestumpftheit der türkischen Öffentlichkeit nach Jahren der Demokratiezerstörung, dass sie – von den üblichen Oppositionellen abgesehen – die Freilassung von 90.000 Verbrechern fast teilnahmslos hinnimmt. Und nicht nur Mithat Sancar meint, dass die Amnestie in erster Linie dem berüchtigten, wegen Anstiftung zum Mord an seiner Ex-Frau zu 19 Jahren Haft verurteilten Mafiapaten Alaattin Cakici galt, der dann auch als einer der ersten Begnadigten das Gefängnis verlassen durfte. Der MHP-Chef Bahceli hatte Cakici öffentlich als seinen "Freund" und "patriotischen Kameraden" bezeichnet und bei Erdogan jahrelang dessen Freilassung eingefordert; 2018 besuchte er den Schwerverbrecher sogar im Haftkrankenhaus.

Die beiden Männer verbindet ihre gemeinsame Vergangenheit als Protagonisten des "tiefen Staates" – Bahceli als politischer Frontmann, Cakici als Vollstrecker. Der Mafiaboss wurde erstmals 1980 wegen mutmaßlichen Mordes an 41 Linken verhaftet, aber wieder freigelassen. Später erledigte er nach eigener Aussage für den türkischen Geheimdienst MIT Operationen zur "Eliminierung von Terroristen", die "nicht im legalen Rahmen durchgeführt werden konnten" – vor allem gegen Kurden und Linke.

Weltkarte mit den Zahlen der Corona-Infizierten, dargestellt in roten Kreisen je nach Verbreitung.

Die Zahlen der mit dem Coronavirus Infizierten in der Türkei steigen immer noch, wenn auch in kleineren Schritten. Da allerdings nicht so großflächig wie in Deutschland getestet wird, ist unklar, in wieweit die Zahlen die Lage realistisch abbilden. DGB/Johns Hopkins University

Kaum in Freiheit, bedankte sich Cakici mit einem Brief bei Bahceli und Erdogan für das Amnestiegesetz. Das bewies Chuzpe. Noch vor drei Jahren hatte er Erdogan schriftlich aus dem Gefängnis heraus bedroht – was ihm normalerweise den immerwährenden Zorn des Präsidenten eingetragen hätte. Doch im Umgang mit Cakici und Bahceli erscheint der mächtige Staatschef plötzlich wie ein Schwächling, der sich dem Diktat Bahcelis, der MHP und der Mafia unterwirft.

Erdogan-Clan, Geheimdienste und organisiertes Verbrechen verschmelzen zu korruptem Milieu

"Nicht einmal Erdogan, die einzige exekutive Autorität in diesem Land, bekommt stets, was er will. Aber Bahceli kriegt es irgendwie immer", kommentierte der bekannte türkische Journalist Murat Yetkin verblüfft und erinnerte daran, dass es Bahceli war, der den Aufstieg von Erdogans AKP in einer schweren Wirtschaftskrise 2001 überhaupt ermöglichte, indem er durch einen Bruch der damaligen Regierungskoalition Neuwahlen erzwang. Später sorgte Bahceli mit politischen Winkelzügen mehrfach dafür, dass Erdogan die Macht erhalten blieb.

Der Preis dafür war, dass Bahcelis inoffizieller Machtapparat immer mächtiger und Erdogan immer stärker von seiner Gunst abhängig wurde. Geheimdienste, organisiertes Verbrechen, AKP-Granden und Erdogans Familienclan, der ebenfalls enge Bande zu notorischen Mafiabossen, Geldwäschern, Gold- und Devisenschmugglern unterhält, sind mittlerweile zu einem kaum mehr unterscheidbaren Milieu verschmolzen, das sich die staatlichen Ressourcen einverleibt.

"Neben ihrer Nachlässigkeit scheint die türkische Regierung direkt an kriminellen Aktivitäten beteiligt zu sein", schreibt der Historiker Ryan Gingeras, Autor eines Buches über das organisierte Verbrechen in der Türkei. Die Mafia-Allüren prägen inzwischen sogar die Außenpolitik, etwa in der Flüchtlingsfrage, wenn Erdogan Geflüchtete als Mittel zur Erpressung der EU missbraucht. Eine Frage, die sich immer dringender stellt, lautet daher: Wie soll der Westen mit einer Türkei umgehen, die sich schleichend in einen Mafia-Staat verwandelt? Falsch wäre ein Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen, weil er diesen Prozess nur beschleunigen würde. Doch sollten wirtschaftliche Hilfen und Investitionen für die ökonomisch angeschlagene Türkei zwingend an Bedingungen wie eine Entlassung der politischen Häftlinge geknüpft werden. Die Chancen, von Erdogan Zugeständnisse zu erlangen, sind Corona-bedingt besser als je zuvor. 


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Kurzprofil

Frank Nordhausen
Journalist und Buchautor, arbeitet seit 2011 als Auslandskorrespondent, erst in Istanbul, jetzt in Nikosia für die Berliner Zeitung, die Frankfurter Rundschau und andere deutschsprachige Zeitungen.
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Karikatur mit einem Mann und einer Frau die an einem Tisch sitzen, auf dem Mikrofone stehen.

DGB/Heiko Sakurai

Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.

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