Mehr Bundeswehrsoldaten verweigern den Dienst an der Waffe – doch umgekehrt widerrufen auch einstige Zivildienstleistende ihre Kriegsdienstverweigerung. Um die aktuelle Debatte über eine "neue Wehrhaftigkeit" zu analysieren, blickt Autor Thomas Gesterkamp auf seine Kindheit und Jugend zurück.
Von Thomas Gesterkamp
In der Raucherecke unseres Jungengymnasiums trafen sich die Meinungsführer, manche pafften nur. Optisch dominierte die Farbe olivgrün, das lag an den Bundeswehr-Parkas, in den 1970er Jahren trug sie mindestens jeder zweite Schüler. Ich mochte den Military-Look nicht, bevorzugte meinen Dufflecoat mit den altmodischen Knebel-Verschlüssen. Der Kampfanorak mit Deutschland-Fahne am Revers passte weder zu den langen Haaren noch zu unserer Haltung zum Militär. Denn wir waren fast alle Pazifisten, und als die Musterung kam, versuchten manche untauglich zu sein, andere flohen nach (West)Berlin, wo Mann wegen des Vier-Mächte-Status unbehelligt blieb. Der Rest verweigerte und leistete Zivildienst.
500 Meter vom Eigenheim meiner Eltern entfernt lag eine britische Kaserne. Auf der anderen Seite der Hauptstraße standen schnell hochgezogene Billighäuser für Soldaten, es sah aus wie in einer nordenglischen Arbeiterstadt. Die hohen Dienstränge wohnten in die Gegenrichtung, doch auch in dieser besseren Gegend waren die Grundstücke schmucklos. Gärtnern lohnte sich nicht, die meisten "Besatzer" blieben nur wenige Jahre. In dieser Nachbarschaft holte sich mein anglophiler Vater Unterstützung, ein Offizier half ihm beim Englisch-Examen für das nachgeholte Lehramt an Berufsschulen. Als 12-Jähriger fuhr ich mit ihm nach London. An der Speakers Corner im Hyde Park, wo jeder öffentlich reden konnte, was er wollte, erklärte er mir anschaulich die Demokratie. Ressentiments gegen Großbritannien habe ich aus seinem Munde nie gehört, nur Bewunderung. Auch zu Russland hat er sich nicht abfällig geäußert. Ende der 1920er Jahre geboren, gehörte er zur skeptischen Generation, ein Begriff des Soziologen Helmut Schelsky. Diese Alterskohorte wurde um ihre Jugend betrogen, musste die Schule abbrechen, um in letzter Minute noch eingezogen zu werden. Mit 17 landete mein Vater bei einer Ausbildungseinheit der Marine im ostfriesischen Leer.
Dass „der Russe kommt“, hörte ich eher von meiner vertriebenen Mutter. Sie erlebte auf der Flucht die Bombardierung Dresdens. Nach Kriegsende kehrte sie nach Schlesien zurück, aber das frühere Wohnhaus war mit Neuankömmlingen aus Ostpolen belegt. Sie arbeitete als Dienstmädchen, wurde 1947 endgültig ausgewiesen. In ihrer Herkunftsfamilie hat sie als einziges Kind überlebt. Ein Trauma, würde man heute analysieren, damals interessierte das niemanden. Ob sie vergewaltigt wurde, weiß ich nicht, sie hat darüber nie geredet. In Erinnerung geblieben sind mir ihre Berichte über den unheimlichen und bedrohlichen Osten: ein imaginiertes fernes Land, wo Wölfe leben und der „böse Iwan“.
Wie die meisten Deutschen wollten meine Eltern einen Neuanfang, um den Preis der Verdrängung und der Unfähigkeit zu trauern. Die 1950er und 1960er Jahre wurden zu einem letzten Hoch für das Christentum – und für die Partei, die ihre religiöse Orientierung bis heute im Namen trägt. Mit acht Jahren ging ich zur Heiligen Kommunion - in einer “Mischehe”, wie man sie damals nannte, mussten die Kinder katholisch getauft sein. Das Wertesystem zu Hause aber war protestantisch, wegen meiner Mutter. Sie machte sich lustig über ihren Mann, wenn der am Sonntag den obligatorischen Kirchgang absolvierte. Dieser Clash der Konfessionen ersparte mir das Messdienertum, auch vom Schulfach Religion habe ich mich so schnell wie möglich abgemeldet (Freistunde!), ohne Protest zu ernten.
In der Spätpubertät las ich Hesse, Sartre und Kierkegaard, schwebte zwischen Existenzialismus, Buddhismus und Philosophie. Doch das christliche Erbe war nicht völlig verschwunden. Jesus, wie er sich der Brutalität im römischen Palästina mit Gewaltlosigkeit entgegenstellt, blieb für mich eine imponierende Figur. Meine schriftliche Begründung zur Kriegsdienstverweigerung war von seiner Aufrufen zur Nächstenliebe geprägt. Mit politischen Analysen zur Rolle der USA in Vietnam konnte man den Prüfern ohnehin nicht kommen. Ich fiel trotzdem durch die Verhandlung, wusste danach wenig mit mir anzufangen. Erneut traf ich eine christliche Wahl, wurde „Jahreshelfer“ in einer von Nonnen geleiteten Psychiatrie im westlichen Münsterland. Die dort untergebrachten Patientinnen hatten nur dank der couragierten Predigten des Kardinals von Galen die Euthanasie-Morde der Nazis überlebt. Das Freiwillige Soziale Jahr brach ich nach acht Monaten ab, denn in zweiter Instanz wurde ich endlich als Verweigerer anerkannt. Im Zivildienst pflegte ich krebskranke Kinder in den Uni-Kliniken. Zusammengerechnet habe ich zwei Jahre für ein Taschengeld „gedient“.
Mehrere Millionen männliche Deutsche sind wie ich staatlich anerkannte Kriegsdienstverweigerer. Eine kleine Minderheit unter ihnen macht ihre Entscheidung nun wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine rückgängig. Das Kölner Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) – früher hieß es Bundesamt für den Zivildienst und war die wichtigste Anlaufstelle für alle, die mit dem Militär nichts zu tun haben wollten – meldete in seiner Bilanz für 2022, dass im vergangenen Jahr genau 487 Menschen ihre Verweigerung widerrufen haben. Mit einer formlosen Verzichtserklärung ist dies jederzeit möglich, ganz anders als auf dem steinigen Weg zur Anerkennung. „Gewissen kann sich wandeln“, jubelte der Stern, andere Medien sprangen begierig auf. Steht die Nachricht doch im Kontrast dazu, dass sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Kriegsgegner innerhalb der Bundeswehr verfünffacht hat.
Der genauere Blick in die BAFzA-Statistik lohnt sich. Ein Jahr zuvor waren es mit 304 Widerrufen noch weniger, zwischen 2014 und 2019 dagegen lagen die Werte deutlich höher. Dass Kriegsdienstverweigerer derzeit massenhaft von ihrer einstigen Entscheidung abrücken, ist statistisch nicht belegbar – auch wenn manche Feuilletons versuchen, eine „neue Wehrhaftigkeit“ geradezu herbeizuschreiben. Im „Ernstfall“, nach einer Intervention durch NATO-Bodentruppen und einer folgenden Rückkehr von der Berufsarmee zum Pflichtdienst, hätte die Bundeswehr ein massives Mobilisierungsproblem: Denn zwischen veröffentlichter Meinung und der weiterhin pazifistischen Grundstimmung in der Bevölkerung klafft eine riesige Lücke.
DGB/Heiko Sakurai
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