Die Gewerkschaften in den USA haben Zuspruch wie lange nicht. Doch die Unternehmen verfeinern ihre Union-Busting-Strategien, um Gewerkschaften zu bekämpfen. Auf Rückhalt aus der Politik können sie aktuell auch nicht setzen.
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Von Thomas Greven
Am 3. Februar wurde East Palestine in Ohio von einer der größten Zugentgleisungen in der Geschichte der USA erschüttert. Seitdem leben die Bewohner in großer Sorge vor gesundheitlichen Schäden durch gefährliche Chemikalien, während sich das Unternehmen Norfolk Southern vor der Verantwortung drückt. Die Katastrophe ist wohl auf technisches Versagen zurückzuführen, aber die Gewerkschaften sehen einen direkten Zusammenhang mit den durch das „precision scheduled railroading“ dramatisch verschlechterten Arbeitsbedingungen. PSR erlaubt den Betrieb immer längerer und schwererer Züge, führt aber auch zu erheblicher Personalknappheit. Besonders pikant ist, dass die angeblich „gewerkschaftsfreundlichste Bundesregierung aller Zeiten“ unter Präsident Joe Biden erst im Dezember 2022 per Gesetz einen Streik der Bahnarbeiter abgewendet hatte. Der auf Basis des Railway Labor Acts von 1926 verordnete Tarifvertrag enthielt weder die vehement geforderten bezahlten Krankheitstage noch schloss er die vielen regulatorischen Schlupflöcher. Dennoch war die Mehrheit der 37 Gewerkschaften im Bahngewerbe überzeugt, dass die vergleichsweise großzügige Lohnerhöhungen die Zustimmung wert waren.
Inflation, Pandemiefrust und ein enger Arbeitsmarkt haben in den USA zu einer Welle gewerkschaftlicher Aktivitäten geführt. Ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau war die Zahl der Streiks schon 2021 gestiegen („striketober“); 2022 erhöhte sie sich noch einmal um 50 Prozent. Hinzu kamen gestiegene Organisierungsanstrengungen, ebenfalls um etwa 50 Prozent gegenüber 2021. Vor dem Hintergrund einer mit 71 Prozent historisch hohen Zustimmung für Gewerkschaften – selbst im traditionell gewerkschaftsfeindlichen Süden der USA lag sie bei 60 Prozent – gab es erstaunliche Erfolge, insbesondere bei jungen Beschäftigten. Unter anderem organisierten sich Baristas bei den Ketten Starbucks und Peet’s Coffee, studentische Beschäftigte an Universitäten, Beschäftigte in der Gaming-Branche, der Tech-Branche, im Gesundheitssektor und in Supermärkten wie Trader Joe’s. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg von 2021 auf 2022 um 200.000. Und über die Hälfte der nicht-organisierten Beschäftigten wünscht sich eine Gewerkschaft.
Erstaunlich sind diese Erfolge, weil die die gesetzlichen Hürden für eine erfolgreiche Organisierung sehr hoch sind. Die Gewerkschaften müssen das kollektive Vertretungsrecht Betrieb für Betrieb erlangen. Dagegen wehren sich die meisten Unternehmen, weil sie sich Konkurrenzvorteile davon versprechen, „gewerkschaftsfrei“ zu bleiben. Starbucks hat beispielsweise einige organisierte Standorte einfach sofort geschlossen, zweifellos als Signal an andere organisierungswillige Beschäftigte. Beratungsfirmen, sogenannte „union busters“, für die die Unternehmen ungefähr 340 Millionen US-Dollar jährlich ausgeben, haben ihre traditionellen Strategien – die Entlassung von Gewerkschaftsaktivisten (verboten, aber leicht zu verschleiern), gewerkschaftsfeindliche Pflichtveranstaltungen und indoktrinierende Einzelgespräche – inzwischen an die veränderten Sensibilitäten der gerechtigkeitspolitisch motivierten jungen Beschäftigten angepasst. Diese verlangen von ihren Arbeitgebern, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, und dazu gehören auch gute Arbeitsbedingungen. Und so werden Gewerkschaften als aus der Zeit gefallene Bastionen der Herrschaft alter weißer (Subtext: „rassistischer und sexistischer“) Männer diffamiert. Managementvertreter betonen die moderne kooperative Unternehmenskultur und schaffen alternative Foren zur Diskussion von Beschäftigtenangelegenheiten („employee resource groups“). Genützt hat ihnen das bisher wenig: Viele der neuen Gewerkschaften sind von den Beschäftigten selbst gegründete „unabhängige“ Basisgewerkschaften, die die Organisierungsarbeit nicht Hauptamtlichen überlassen („self-organizing“). Dies entspricht einer seit langem von der Gewerkschaftslinken propagierten Abkehr von gewerkschaftlicher Stellvertreterpolitik.
Leider geht der unternehmerische Widerstand nach der erfolgreichen Gewerkschaftsgründung weiter, was die neuen Mitglieder schnell herausfinden, so wie prominent bei Amazon in New York und bei den hunderten von frisch organisierten Starbucks-Filialen. Durchschnittlich vergehen nach der Anerkennungswahl 465 Tage bis zum ersten Tarifvertrag. Auch hier ist das Gesetz auf Seiten der Unternehmen. Sie müssen zwar „in gutem Glauben“, dass heißt mit Willen zum Abschluss eines Vertrags verhandeln, doch die Latte dafür liegt sehr niedrig und für Verzögerungen und andere Verstöße gibt es keine ernsthaften Strafen. Strategen wie Jane McAlevey raten dazu, die Zeit bis zum ersten Tarifvertrag als Fortsetzung der Organisierungsarbeit zu betrachten. Doch wenn Streiks notwendig werden, um das Management zu ernsthaften Verhandlungen oder Zugeständnissen zu bewegen, stehen die unabhängigen Basisgewerkschaften vor einem Finanzierungs- und Durchhalteproblem. In den USA werden Mitgliedsbeiträge meist erst erhoben, wenn in einem Tarifvertrag der entsprechende Lohnabzug vereinbart wird („dues check-off“). Und in Branchen wie dem Gaststättengewerbe ist die Fluktuation der Beschäftigten sehr hoch. Nach einem Jahr ohne Vertragsabschluss können die Unternehmen beantragen, der Gewerkschaft das Kollektivvertragsrecht wieder zu entziehen.
So ist es nur zu verständlich, wenn viele der Basisgewerkschaften sich etablierten Gewerkschaften anschließen. In der Praxis trägt das zum Flickenteppich der amerikanischen Gewerkschaftslandschaft bei. Viele studentische Beschäftigte sind beispielsweise ausgerechnet in der Automobilarbeitergewerkschaft UAW organisiert – die zugleich kaum noch neue Mitglieder in ihrer eigentlichen Industrie gewinnt. Sektorale Tarifverhandlungen geraten in weite Ferne, wenn sämtliche Gewerkschaften faktisch zu Mini-Dachverbänden werden, aber nur wenige Betriebe einer Branche organisieren, jeweils mit anderen Arbeitsbedingungen, Löhnen und Vertragslaufzeiten.
Nur der Gesetzgeber könnte die Ausgangsbedingungen der US-Gewerkschaften substanziell verbessern, doch eine Arbeitsrechtsreform ist im Kongress blockiert. Die Biden-Regierung hat die zuständige Behörde NLRB wieder zum Anwalt der Beschäftigten gemacht – auch wenn es an konkreten Verbesserungen noch mangelt – und die „Buy American“-Investitions- und Infrastrukturprogramme werden insbesondere im Baugewerbe für einen Anstieg gewerkschaftlich organisierter Beschäftigung sorgen. Doch die staatlichen Subventionen werden nicht an eine Tarifbindung geknüpft.
Auf städtischer und bundesstaatlicher Ebene gibt es Hoffnung, dass die „non-compete“-Klauseln fallen, die etwa ein Fünftel der Beschäftigten daran hindern, auf eine Stelle in der gleichen Branche zu wechseln – selbst im Fast-Food-Sektor – was dazu führt, dass Beschäftigte nicht vom engen Arbeitsmarkt profitieren können. Auch gibt es Bestrebungen, das voluntaristische System der „at will“-Beschäftigung zu beschränken. Entlassungen sollen begründet werden müssen („just cause“). Zugleich bemühen sich allerdings von Republikanern dominierte Bundesstaaten, die regulatorische Handhabe von Stadtregierungen – meist in der Hand von Demokraten – einzuschränken, beispielsweise um höhere lokale Mindestlöhne zu verhindern. Und über allem schwebt das Damoklesschwert einer anstehenden Entscheidung des Supreme Courts im Fall Glacier Northwest, Inc. vs. International Brotherhood of Teamsters, die das Streikrecht fundamental schwächen könnte, falls Gewerkschaften für wirtschaftliche Schäden haftbar gemacht werden.
Immerhin: Streiks und Organisierungsbemühungen bekommen endlich wieder mediale Aufmerksamkeit. Und so ist es ernüchternd bis deprimierend, auf die aggregierten Zahlen zu schauen. Denn aufgrund des starken Beschäftigungswachstums stieg der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder 2022 nicht etwa, sondern er sank weiter auf insgesamt 10,1 Prozent und nur noch 6 Prozent in der Privatwirtschaft. Das liegt auch daran, dass in vielen der neu organisierten Betriebe nur sehr wenige Menschen arbeiten.
Und doch: Auch wenn die vielen erfolgreichen Organisierungsbemühungen nichts an der Gesamtentwicklung ändern, sind sie dennoch zu begrüßen. Sie sorgen dafür, dass die Gewerkschaften sich verjüngen, diverser werden, und auch progressiver. Sie werden dadurch zu einer relevanten Bewegung, nicht vorrangig identitätspolitisch, sondern im weitesten Sinne klassenpolitisch. Das ist wichtig für die in diesem Jahr anstehenden großen Tarifauseinandersetzungen – u.a. für 340.000 bei den Teamsters organisierten Fahrern und Lagerarbeitern und für 150.000 Automobilarbeiter. Die Gewerkschaften können so auch die Demokratische Partei wieder für die seit vielen Jahren an die Republikaner verlorene Arbeiterklasse –insbesondere für Weiße ohne College-Abschluss – attraktiver machen. Nicht zuletzt werden die Gewerkschaften dringend gebraucht, um im Präsidentschaftswahljahr 2024 die demokratischen Institutionen gegen den autokratischen MAGA-Trumpismus, der die Republikanische Partei dominiert, zu verteidigen.
DGB/Heiko Sakurai
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