Die vergangenen 13 Jahre der ultraniedrigen Zinsen haben zu massiver Ungleichheit beigetragen. Yanis Varoufakis zeigt, welche Möglichkeiten die Notenbanken haben, um in schwierigen finanzpolitischen Zeiten für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
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Die Notenbanken der hochentwickelten Volkswirtschaften ähneln in der aktuellen Coronalage dem sprichwörtlichen Esel, der sich trotz Hunger und Durst nicht zwischen Heu und Wasser entscheiden kann. Hin und hergerissen zwischen Inflations- und Deflationsangst, verfolgen die Geldpolitiker derzeit einen kostspieligen Ansatz des Abwartens. Nur eine progressive Neuinterpretation ihrer Werkzeuge und Ziele kann ihnen helfen, in der Pandemie eine gesellschaftlich nützliche Rolle zu spielen.
Die Notenbanker hatten früher einen einzigen Steuerungshebel: die Zinsen. Diesen Hebel senkten sie nach unten, um eine lahmende Wirtschaft neu zu beleben, oder drückten diesen nach oben, um die Inflation im Zaum zu halten – häufig auf Kosten einer dadurch ausgelösten Rezession. Den richtigen Zeitpunkt für diese Schritte war nie einfach, aber zumindest gab es nur eine mögliche Maßnahme: den Hebel nach unten oder nach oben zu drücken. Heute ist die Arbeit der Notenbanker doppelt so kompliziert, weil sie seit 2009 zwei Hebel haben, mit denen sie hantieren.
Nach der globalen Finanzkrise von 2008 wurde ein zweiter Hebel nötig, weil der andere sich verkeilt hatte: Obwohl man ihn weitestmöglich nach unten gesenkt und die Zinsen auf null oder sogar ins Negative gezwungen hatte, stagnierte die Wirtschaft. Dem Beispiel der Bank von Japan folgend schufen die wichtigen Notenbanken – angeführt von der US Federal Reserve und der Bank von England – daher einen zweiten Hebel, der als quantitative Lockerung bekannt wurde. Sein Einsatz führte zur Geldschöpfung, dem Kauf von Wertpapieren durch die Handelsbanken. Die Hoffnung war, dass diese das neue Geld direkt in die Realwirtschaft pumpen würden. Wenn es dann zur Inflation käme, würden die Notenbanken lediglich den Hebel senken müssen, indem sie die Wertpapierkäufe zurückfahren.
So jedenfalls lautete die Theorie. Jetzt, da eine Inflation in der Luft liegt, sind die Notenbanken nervös. Sollen sie ihre Politik straffen? Tun sie es nicht, erwartet sie die Schmach ihrer Amtsvorgänger der 1970er Jahre. Diese ließen zu, dass sich die Inflation etablierte. Folgen sie jedoch ihren Instinkten und verschieben beide Hebel, indem sie die quantitative Lockerung zurückfahren und die Zinsen moderat erhöhen, laufen sie Gefahr, gleich zwei Krisen auf einmal auszulösen: ein Feuerwerk der Arbeitslosigkeit, da die steigenden Zinsen die Gesamtnachfrage verringern und die Investitionen bremsen, und eine Finanzkrise. Die übermäßig aufgeblähten Märkte und Unternehmen geraten nach dem kostenlosen Geld der quantitativen Lockerung in Panik geraten. Das „Taper Tantrum“ – also einen starken Anstieg der Zinssätze für Staatsanleihen – wie 2013, würde dagegen blass aussehen.
Dieses Szenario versetzt die Notenbanken in Angst und Schrecken, weil es ihre beiden Hebel nutzlos machen würde. Trotz gestiegener Zinsen gäbe es weiterhin kaum Spielraum für Zinssenkungen. Und es würde eine politisch unzumutbar starke quantitative Lockerung erfordern, um den abgesoffenen Finanzmärkten wieder Auftrieb zu verleihen. Daher tun die Geldpolitiker gar nichts und machen es dem unglückseligen Esel nach, der sich nicht entscheiden konnte, welches seiner Bedürfnisse wichtiger ist.
Natürlich wurde der zweite Hebel, die quantitative Lockerung, historisch betrachtet erst erfunden, nachdem der erste Hebel – Zinssenkungen – nicht mehr funktionierte. Doch warum sollten wir annehmen, dass diese Reihenfolge angesichts des Anstiegs der Inflation jetzt umgekehrt werden muss, indem man erst die quantitative Lockerung beendet und dann die Zinsen erhöht? Warum kann man beide Hebel nicht gleichzeitig und in dieselbe Richtung bewegen: die Zinssätze anheben und die quantitative Lockerung ausweiten?
Die Zinsen sollten in der Tat erhöht werden. Man darf nicht vergessen, selbst in Zeiten einer offiziellen Nullzinspolitik kommen die unteren 50 Prozent der Einkommensverteilung nicht an günstige Kredite heran und borgen letztlich zu Wucherzinsen per Kleinkredit, Kreditkarten und unbesicherten Privatkrediten. Nur die Reichen profitieren von den ultraniedrigen Zinsen. Was die Regierungen angeht, so erlauben ihnen die niedrigen offiziellen Zinssätze zwar die billige Prolongation ihrer Schulden, doch eine Abmilderung ihrer haushaltspolitischen Zwangslage scheint unmöglich – mit der Folge eines ständigen Mangels an öffentlichen Investitionen. Aus diesen beiden Gründen haben 13 Jahre ultraniedriger Zinsen zu massiver Ungleichheit beigetragen.
Diese steigende Ungleichheit hat die Ersparnisse noch größer gemacht, da die Ultrareichen sich schwertun, ihre Berge von Geld auszugeben. Weil die wachsenden Ersparnisse das Angebot an Geld widerspiegeln, während die mickerigen Investitionen die Nachfrage danach repräsentieren, ist das Ergebnis ein Abwärtsdruck auf den Preis des Geldes, was die Zinsen in Nullnähe hält. Die Notenbanken müssen daher den Mut aufbringen, die Zinsen zu erhöhen, um diesen Teufelskreis untragbarer Ungleichheit und unnötiger Stagnation zu durchbrechen. Die Notenbanken haben natürlich Angst, dass Zinserhöhungen zu Staatsbankrotten führen und eine schwere Rezession auslösen werden. Aus diesem Grund sollten Zinserhöhungen mit zwei wichtigen politischen Schritten einhergehen.
Erstens ist eine echte Restrukturierung der öffentlichen und privaten Schulden unvermeidlich. Die Notenbanken sollten daher ihre Versuche einstellen, diese zu vermeiden. Die Zinsen unter null zu halten, um den Konkurs insolventer Gebilde – wie dem griechischen und dem italienischen Staat und einer großen Zahl Zombie-Firmen – zu verzögern, wie es Europäische Zentralbank und Fed derzeit tun, ist töricht. Stattdessen sollten wir die unbezahlbaren Schulden umstrukturieren und die Zinsen erhöhen, um das Entstehen weiterer unbezahlbarer Schulden zu verhindern.
Zweitens sollten wir, statt die quantitative Lockerung zu beenden, das durch sie hervorgebrachte Geld von den Handelsbanken und ihren Unternehmenskunden (die den größten Teil dieses Geldes für Aktienrückkäufe ausgegeben haben) weg lenken. Dieses Geld sollte – mittels öffentlicher Investitionsbanken wie der Weltbank und der Europäischen Investitionsbank – ein Grundeinkommen und die ökologische Wende finanzieren.
Diese Form der quantitativen Lockerung wird sich nicht als inflationär erweisen, wenn das Einkommen von der oberen Mittelschicht aufwärts stärker besteuert wird und wenn grüne Investitionen beginnen, die umweltfreundliche Energie und die Waren hervorzubringen, die die Menschheit braucht. Eine progressive Geldpolitik würde die Zinsen erhöhen und zugleich die Früchte des Geldbaums in den Klimaschutz und die Verringerung der Ungleichheit investieren. Falls das hilft, diese Politik zu verkaufen, könnte man sie als „nachhaltige geldpolitische Straffung“ bezeichnen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan / © Project Syndicate 2021
DGB/Heiko Sakurai
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