Deutscher Gewerkschaftsbund

08.09.2021

Keine Zeit für Experimente

Der steile Wiederaufstieg der SPD ist nicht nur das Ergebnis schwacher Konkurrenz, sondern auch eines professionellen Wahlkampfs. Scholz fokussiert sich auf wichtige Themen wie Solidität, Rente, Klima, Mindestlohn, soziale Gerechtigkeit und "Respekt", also die Fürsprache für die "einfachen Leute".


Von Robert Misik

Wahlplakat an der Fassade des Willy-Brandt-Hauses mit dem Gesicht von Olaf Scholz und dem Spruch darunter: Scholz packt das an. spd.de

Offen, kompetent und zupackend – so präsentiert die SPD ihren Kanzlekandidaten Olaf Scholz bislang mit großem Erfolg. Willy Brandt wäre wohl zufrieden, wenn auch inhaltlich nicht immer begeistert. DGB/123rf.com

Vor wenigen Monaten noch lag die SPD nicht nur hoffnungslos abgeschlagen, es sah sogar nach einem Kanzler*innenduell Armin Laschet gegen Annalena Baerbock aus. Es hätte für die Sozialdemokraten wirklich bitter ausgehen können. Und jetzt? Ein gänzlich anderes Bild: Die SPD stabil auf Platz eins, der Abstand zur Union je nach Umfrage zwischen zwei oder fünf Prozent. Und Olaf Scholz scheint plötzlich der Favorit auf Platz eins. Wie in aller Welt haben sie das hingekriegt?

Das Bedürfnis nach Sicherheit begünstigt Scholz

Nun gehört dazu gewiss Glück, aber es gab auch so etwas wie einen Plan. Der lautete ganz grob verkürzt: Die Menschen entscheiden sich erst in den letzten Wahlkampfwochen und dann wird wesentlich, welcher Person sie am ehesten die Führung des Landes zutrauen. Insofern war zumindest die CDU lange Zeit überbewertet, da man CDU mit Merkel-Politik verband, selbst wenn man kognitiv wusste, dass Merkel nicht mehr antritt.

Generell sind wir in keiner Zeit, in der das allgemeine Sicherheitsempfinden so stabil ist, dass die Bürger und Bürgerinnen gerne einmal ein paar Experimente wagen. Im Gegenteil: Pandemie, die wirtschaftlichen Verwerfungen, die sie zur Folge hatte als auch die sonstigen Krisenerscheinungen – etwa die Klimakatastrophe – machen Angst genug. Da steht das Bedürfnis nach Sicherheit hoch im Kurs.

Olaf Scholz, der nun gewiss nicht als Heißsporn gilt und den man mit Begriffen wie "Solidität" und "Kompetenz verbindet, kommt diesem Sicherheitsbedürfnis entgegen. Hinzu kommt: Es gab und gibt schon den Typus der "Merkel-Wähler*innen", die mehr Mitte sind als konservativ, die etwa beim Thema Diversität und Migration, aber auch in Hinblick auf Frauengleichstellung eher "progressiv" sind. Diese Merkel-Wähler*innen müssen sich bei dieser Wahl neu entscheiden – und sie passen eher zur SPD als zu einer Union, in der Armin Laschet sich gezwungen sieht, Figuren wie Friedrich Merz oder Hans-Georg Maaßen zu hofieren oder zumindest zu tolerieren.

Vier Männer in dunklen Anzügen stehen mit etwas Abstand nebeneinander, vor sich Mikrofone, und blicken ernst in Kameras.

Von Begeisterung und gegenseitigem Vertrauen bei CDU- und CSU-Führung war wenig zu sehen, als sie Armin Laschet (links) als Kandidat vorstellten. Daran hat sich nicht viel geändert, auch wenn Markus Söder (rechts) heute anders redet. DGB/Reuters

So setzte die SPD vollends auf Olaf Scholz und dessen Erfahrung, mangels Titelverteidigerin spielt er zuletzt (etwa im ersten TV-„Triell“) sogar so etwas wie den „Vizekanzler-Bonus“ aus und die kleineren und größeren Stolpereien der direkten Konkurrenz halfen dabei. Die Serie von Fehltritten von Laschet und Baerbock nährten die Zweifel, ob sie für das Amt wirklich tauglich sind. Die persönlichen Werte sprechen hier eine klare Sprache: Steht es bei der berühmten "Sonntagsfrage" noch einigermaßen ausgeglichen, so ist Scholz bei den persönlichen Werten mittlerweile Lichtjahre von seinen Rivalen entfernt.

Das gab's fast nie: alle Flügel und Gruppen in der SPD ziehen an einem Strang

Der SPD-Kanzlerkandidat hat ja "bekanntlich Nerven wie Drahtseile" (so Olaf Scholz‘ engster Vertrauter, Finanzstaatssekretär Wolfgang Schmidt im Juni). Und so blieb er ruhig, auch als es noch deutlich schlechter für ihn aussah und ließ die Chance auf sich zukommen, ohne hektisch zu werden.

Das alles erklärt jedoch noch nicht vollends den Aufstieg der SPD in der Zustimmung. Bemerkenswert ist: Die SPD ist so geschlossen und diszipliniert wie schon lange nicht mehr. Ein wenig ist das Ergebnis eines historischen Zufalls. Die "Parteilinke" hat den Kampf um den Parteivorsitz gewonnen. Und die neuen Vorsitzenden haben dann einen „Parteirechten“ zu ihrem Kanzlerkandidaten gemacht. Das ergab ein seit langem nicht dagewesene günstige Konstellation, nämlich, dass alle Flügel und Gruppen in der Partei an einem Strang ziehen und einen gemeinsamen Erfolg wollen. Man kann sich ja noch an Situationen erinnern, in denen die einen den anderen keinen Erfolg gönnten oder diesen sogar hintertrieben. Das ist diesmal nicht der Fall.

Ausschnitt der SPD-Internetseite mit rot unterlegtem Text "Respekt für Arbeit" und Bild von zwei Krankenschwestern, die sich umarmen.

Die SPD setzt auf ihren Spitzenkandidaten und auf einige wichtige soziale Kernbotschaften, die derzeit zu ihrem Glück hoch im Kurs stehen. DGB/SPD/Screenshot

Im Gegenteil: Das ist gerade das Problem der Union. Die Art, wie Armin Laschet zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde, trug bereits den Keim des Desasters in sich. Weite Teile der Union hätten Markus Söder vorgezogen, Laschet wurde aber im CDU-Parteivorstand durchgeboxt. Schlimmer noch ist, dass selbst im CDU-Parteivorstand wesentliche Funktionäre gegen Laschet waren. Sie haben das dort gesagt und diese Wortmeldungen wurden auch noch öffentlich bekannt. Im Grunde ein Fiasko. Die Union startete mit einem Kandidaten ins Rennen, von dem bekannt war, dass seine eigenen Vorstandsmitglieder ihm gerade ins Gesicht gesagt hatten, dass er nur geringe Chancen habe, die Wahlen zu gewinnen und die eigenen Anhänger ihn nicht wollen. Viel schlimmer kann man in einen Wettbewerb um die Kanzlerschaft eigentlich kaum starten.

Der "neue Scholz" passt zum Mainstream von Partei und Gesellschaft

Zur Einheit in der SPD kam dann noch Professionalität: die Spitzenfiguren haben eine klare Botschaft, keiner schert aus, der Wahlkampf stellt ein paar Themen in den Vordergrund: Solidität, Kompetenz, Klima, Mindestlohn, soziale Gerechtigkeit, und das, was bei Scholz mit dem Thema "Respekt" gemeint ist, also die Fürsprache für die "normalen", die "einfachen Leute", die bisher oft das Gefühl hatten, dass sich niemand mehr für sie interessiert, und insbesondere die Sozialdemokratie sie vergessen habe. Jetzt lässt sich schwer einschätzen, wie viel sich hier an Vertrauen in relativ kurzer Zeit zurück gewinnen lässt, wenn man es einmal verloren hat, aber die stetige Betonung dieses Wertes Respekt und die flächendeckende Plakatierung um Straßenbild wird nicht ohne Wirkung bleiben.

Aber noch ein Zufall der Zeitläufe ermöglichte es dem SPD-Spitzenkandidaten – der ja vor nicht einmal zwei Jahren immerhin den Kampf um den Parteivorsitz verloren hatte –, sich relativ geräuschlos neu zu positionieren. Durch die Corona-Krise wurde Scholz zum Staatsinterventionisten, der ein neues keynesianisches Paradigma verkörpert. Vom Verfechter der "schwarzen Null" ist er markant nach links gerückt, aber ohne dass das als Meinungsumschwung wirkte. Es hatten sich einfach die Umstände verändert und die veränderten Umstände schufen einen "neuen Scholz", aber einen, der besser zum Mainstream der Partei passte und plötzlich auch problemlos mit dem neuen Vorsitzendenduo kompatibel ist. Plötzlich stand Olaf Scholz für einen aktivistischen Staat, der investiert, der die Gesellschaft stabilisiert und das auch noch mit „Wumms“. Gewiss ist Olaf Scholz die verkörperte Mitte, aber er selbst ist „linker“ positioniert als noch vor einigen Jahren.

Manches scheint sogar auf paradoxe Weise seitenverkehrt plötzlich. Mit einem Mal hat die Union das Problem, dass sie nach 16 Merkel-Jahren schwer sagen kann, es solle alles so bleiben wie es ist, sie sich aber zugleich nicht von der Merkel-Ära distanzieren kann. Manchmal wirken die Wahlkämpfer, als wollten sie sich vom Merkel-Erbe lossagen, dann wieder wollen sie das nicht zu sehr tun und bleiben so irgendwie gefangen. Kurzum: Die CDU weiß nicht, wie sie zur Merkel-Ära stehen soll. Der Umgang mit dem Merkel-Kurs erinnert manchmal schon frappant an das jahrelange, neurotische Leiden der SPD an der Schröder-Hinterlassenschaft und der Agenda 2010. Man kann sich vorstellen, was nach einem verpfuschten Wahlergebnis noch folgt. Jedenfalls zeigte sich auch in dieser Hinsicht im Wahlkampf: Da wird keine richtige Linie draus.


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Kurzprofil

Robert Misik
ist ein österreichischer Publizist und Journalist, der sich seit Jahrzehnten mit der Sozialdemokratie in Europa beschäftigt. 1992 bis 1997 war er Korrespondent des Nachrichtenmagazins Profil in Berlin.

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