Die digitale Transformation in der Wirtschaft erreicht nach und nach alle Bereiche von Produktion und Dienstleistungen. Viele Unternehmen sind darauf nicht vorbereitet und streichen planlos Stellen. Sie sollten lieber mit den Gewerkschaften an zukunftsweisenden Konzepten arbeiten. Denn wenn die Transformation die Menschen weiter verunsichert, gewinnen die Rechten mehr Zulauf.
Von Peter Kern
Der Ernst der Lage war den Demonstrant*innen bei der großen IG-Metall-Kundgebung in Stuttgart am Wochenende anzusehen. DGB/IG Metall
Wenn Leute um ihren Job bangen, werden sie sich kaum fragen: Liegt das jetzt an der beginnenden Rezession oder doch eher an der Transformation? Klar ist, dass die Situation in den Betrieben im krassen Gegensatz steht zu vielen allzu optimistischen Kommentaren, die im Umbau der Industriegesellschaft und der Digitalisierung jede Menge Chancen für zukunftsträchtige Arbeitsplätze sehen.
Die Geschäftsführer der Automobil- und der Zulieferindustrie machen derweil, was sie am besten können – schöne Charts an die Wand werfen mit Zukunftsvisionen, beispielsweise für die Mobilität in der Megacity der Zukunft; Zeithorizont 30 Jahre. Womit die Belegschaften in den nächsten 30 Monaten über die Runden kommen sollen, erscheint vor diesem Think big als kleinkarierte Frage. Die schmucken Präsentationen sind für die Öffentlichkeit, auch die innerbetriebliche, als PR gedacht. Auf der hinteren Bühne läuft das alte Geschäft weiter: Verlagerung in Billiglohnländer, Rationalisierung der Bürobereiche, Lohndumping.
Allein die IG Metall Baden-Württemberg weiß von 160 Unternehmen mit Kurzarbeit und Jobabbau in ihrem Bezirk. Es bestätigt sich, was sich in der letzten bundesweiten Umfrage der Gewerkschaft abgezeichnet hat. In mehr als der Hälfte der Unternehmen in der Elektroindustrie, dem Automobil- und Maschinenbau geht man ohne Strategie in den industriellen Strukturwandel, und die Folgen dieser strategischen Blindheit baden die Beschäftigten aus.
Die IG Metall hat mit Hilfe ihrer befragten Betriebsräte und Vertrauensleute bundesweit knapp 2.000 Betriebe analysiert, in denen es mehr als anderthalb Millionen Beschäftigte gibt. Nach Einschätzung der Interessenvertreter arbeiten 57 Prozent ihrer Kollegen*innen in Berufen mit hohem Substituierungspotential; ihre Jobs könnten also im Zuge der Digitalisierung verschwinden. In 55 Prozent der Betriebe ermitteln die Personalbereiche weder die nötigen Qualifikationen, damit der Wegfall der alten Tätigkeiten durch neu entstehende, digitalisierte Tätigkeitsfelder kompensiert werden kann, noch gibt es eine vorausschauende Personalplanung. Von Assistenzsystemen, Datenbrillen und den für die Digitalisierung angebotenen Qualifizierungsprogrammen der Arbeitsagentur hat die Mehrzahl der Geschäftsführungen noch nie gehört.
Die Transformation schreitet unaufhaltsam voran. Doch in vielen Unternehmen fehlt eine Strategie für die Digitalisierung. Sicher ist nur: in den Produktionshallen und Büros werden auch noch Menschen arbeiten DGB/Kittipong Jirasukhanont/123rf.com
Auf einer Kundgebung der IG Metall in Stuttgart (Motto: Jobabbau, Zukunftsklau, Halbschlau) haben Betriebsräte vor 15.000 Teilnehmenden die Not von Belegschaften vorgestellt, deren oberstes Management ohne durchdachtes Geschäftsmodell künftig noch Geschäfte machen will. Der Vorsitzende seines Gremiums bei Daimler in Untertürkheim, Michael Häberle, berichtete über die zunehmende „soziale Kälte im Unternehmen“, das in der Wirtschaftspresse gerne als „Komfortzone“ bezeichnet wird. Das Leitwerk für Antriebe hat darum zu kämpfen, dass es künftig den elektrischen Antrieb fertigen kann. Zukauf von Externen? Das Management lässt die Belegschaft im Unklaren. Die setzt jetzt auf den politischen Antrieb für ihre Sache; deshalb gingen so viele Daimler-Leute auf diese Kundgebung.
Die Verlagerung der Produktion ist bei Conti in Oppenweiler schon beschlossene Sache. Künftig werden die Klimaanlagen im Billiglohnland Rumänien hergestellt. Der ganze Betrieb mit 340 Beschäftigten steht vor dem Aus. Beim Lokalmatador Bosch werden 1.000 Stellen in Schwäbisch-Gemünd und 1.600 in den Forschungs- und Entwicklungsbereichen von Feuerbach und Schwieberdingen wegfallen. Fast genauso viele Arbeitsplätze sind im Konzern bereits auf der Strecke geblieben. "Sozialverträgliche Lösungen" heißt in diesen Fällen die verabreichte Beruhigungstablette. Auf deren Nebenwirkungen weißt die Jugendvertreterin Naliandrah Sickinger hin: Wo die Übernahme nach der Ausbildung tarifvertraglich nicht gesichert ist, werden die Ausgebildeten nicht übernommen. Jobabbau, Zukunftsklau.
Die Umbrüche der Industrien betreffen keineswegs nur die Metall- und Elektrobranchen, und in die cyber-physikalische Welt werden nicht nur die Fertigungsbereiche transformiert. Was unter Künstlicher Intelligenz firmiert, ist auch ein sehr intelligentes Verfahren, die Administration zu automatisieren. Mitte des Jahres häuften sich die angekündigten Entlassungen: Bayer, BASF, Deutsche Bank, Lufthansa, SAP werden in Tausende Angestelltenjobs streichen.
Viele administrative Prozesse sind dank Algorithmus auf menschliche Arbeit nicht mehr angewiesen; repetitive Arbeit fällt nun auch auf den Büroetagen weg. Die SAP-Systeme führen aus, was früher der Job eines Buchhalters war: Überweisungen mit Tippfehlern und Zahlendrehern überprüfen. Beim Touristikkonzern Tui wiederum ist die Bearbeitung von Reklamationen bereits fast komplett automatisiert. Auch nicht-repetitive Arbeit, beispielsweise die eines Controllers, der mit aufwendigen Modellen Prognosen über Liquidität und Absatz erstellt, lässt sich durch Software ersetzen. Die Unternehmen sind dabei, ihre Corporate Center mächtig zu verschlanken.
Repetitive Tätigkeiten am Fließband verschwinden. Für neue Jobs müssen die Mitarbeiter*innen gut fortgebildet werden. DGB/Simone M. Neumann
Das mit Künstlicher Intelligenz rationalisierte Backoffice wird kein menschenleeres Büro sein. Unternehmensberater verweisen auf den sensibelsten Punkt: Die Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter für die neuen IT-Anwendungen qualifizieren. Denn Personal wird nicht nur abgebaut, es entstehen auch neue Jobs. Fachleute sind gefragt, die Daten „lesen“ können, die mit vorhandenem Datenmaterial die Lieferkette, die Produkterstellung, die Vertriebskanäle, die Kundenakquise etc. verbessern helfen. Solche Jobs eignen sich kaum für Outsourcing.
Die Gewerkschaften sind angesichts des Strukturwandels in den Werkshallen und den Großraumbüros nicht blauäugig. Wo ihre Organisationsmacht ausreicht, in den Schlüsselunternehmen der Metall-, der Elektro- und der chemischen Industrie schließen ihre Betriebsräte Vereinbarungen ab, die den Beschäftigtengruppen, die von den Umbrüchen bedroht sind, für eine mittlere Frist Existenzsicherheit geben. Die Betriebsräte verlangen mit ihrer Gewerkschaft Investitionen in neue Geschäftsfelder und wehren sich gegen neuerliche Sparprogramme. Zunehmend fehlen aber Verhandlungspartner, die sich auf "belastbare Zusagen mit Blick auf Beschäftigungssicherung und die Zukunft von Standorten … verpflichten lassen", sagt der Stuttgarter Bezirksleiter der IG Metall, Roman Zitzelsberger. Sozialpartnerschaft, so seine gegenwärtige Erfahrung, verstehe mancher Unternehmer als eine Schönwetterveranstaltung, die er bei rauerem Wetter schnell mal aufkündigen kann.
Die IG Metall geht das aktuell drängendste Problem an, den Auftragseinbruch bei den Autozulieferern und dort vor allem bei den mit knappen Finanzmitteln versehenen Klein- und Mittelbetrieben. "Wir brauchen bessere Arbeitsmarktinstrumente zum Erhalt der Beschäftigung und zur Qualifizierung", so Zitzelsberger. Er fordert eine Regelung, die Kurzarbeit länger ermöglicht, die Übernahme der Beiträge zur Sozialversicherung erlaubt und auch schon greift, wenn weniger als ein Drittel der Belegschaft ohne Arbeit ist. Die staatlichen Zuschüsse für Weiterbildung und Arbeitsentgelt sollten noch mehr Betrieben zugutekommen. Ein baden-württembergisches Bündnis aus Wirtschaftsministerium, Arbeitgeberverbänden, Arbeitsagentur, IHK und DGB möchte zudem eine Regelung, die von Kurzarbeit betroffene Betriebe davon befreit, ihre Arbeitszeitkonten ins Minus laufen zu lassen. Dann müssten die Firmen nicht weiterhin ihre Beschäftigungslosen bezahlen.
Ob der Strukturwandel gelingt hängt an so sperrigen Begriffen wie dem Transformationskurzarbeitergeld und dem Qualifizierungschancengesetz, mithin an der Arbeit des Bundesarbeitsministers. Wer die Sozialdemokraten zwecks Regeneration zum Regierungsaustritt veranlassen will, sollte also bitte beantworten, wer den Job von Hubertus Heil weiterführen soll. Einer klugen Arbeitsmarktpolitik kommt gegenwärtig eine extrem wichtige Rolle zu, ebenso wie der leichtfertig von der SPD aus der Hand gegebenen Industriepolitik. Das Zögern der Unternehmen neue Geschäftsfelder zu erschließen, hängt mit den Versäumnissen einer halbschlauen Industriepolitik zusammen. Wo es an der flächendeckenden Versorgung mit regenerativem Strom, Ladestationen und schnellem Internet mangelt, fehlt der Drive in Richtung Elektroauto und digitaler Fabrik.
Die Transformation in Schwung zu bringen, liegt im Eigeninteresse der Regierungsparteien. Denn die erfolgreiche rechte Konkurrenz lebt davon, dass die Sache hakt. Ihre Agitation nistet in der Kluft zwischen den alten Arbeitsplätzen, die verschwinden, und den neuen, die noch fehlen. Der AfD-Mann Björn Höcke marschiert mit seinen Mannen vor den Fabriktoren auf und gibt den Helden der Arbeiterklasse. Seine Botschaft kommt gut an, weil sie so einfach ist: Alles könne bleiben wie es ist, der Diesel, der Benziner, die Oberlausitzer Braunkohle. Die Industriearbeiter und die Handwerker sind neben den Kleinunternehmern seine treuesten Wähler. Die AfD führt sie in die Irre, während die politischen und wirtschaftlichen Kräfte zu wenig tun, was vom Gelingen des Strukturwandels überzeugen kann. Misslingt er, kommt die AfD einer autoritären Transformation der Demokratie immer näher.
Friday for Future hat eine Solidaritätsadresse zur IG-Metall-Demonstration publiziert:
"Liebe Demonstrierenden,
immer wieder werden unsere Kämpfe gegeneinander ausgespielt. Dabei sind wir von Fridays for Future Stuttgart überzeugt, dass wir das gleiche Anliegen haben: eine lebenswerte Zukunft für alle.
Wir kämpfen für Klimagerechtigkeit und Klimagerechtigkeit bedeutet, dass wir auch auf dem Weg dorthin niemanden auf der Strecke lassen dürfen! Die Klimakrise darf keine Existenzkrise sein, nicht im globalen Süden und auch nicht hier.
Wir sehen Politik und Wirtschaft in der Verantwortung uns als Bürger*innen und unsere Lebensgrundlage zu schützen, auf allen Ebenen. Es ist ihre Aufgabe den Rahmen dafür zu halten, dass wir gemeinsam diesen nachhaltigen Wandel schaffen.
Wir müssen jetzt alle an einem Strang ziehen, wenn wir unsere Erde, unsere Kinder, unsere Zukunft ernst nehmen.
Deswegen rufen wir auch euch alle dazu auf, nächsten Freitag am 29.11., dem 4. Globalen Klimastreik, um 12 Uhr wieder mit uns die Straßen zu fluten und den Ruf nach Gerechtigkeit laut werden zu lassen!"
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.