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Die aktuelle Streikwelle untermauert die Notwendigkeit einer neuen Protestkultur - und zeigt das Machtpotenzial einer stärkeren Kooperation unter den Gewerkschaften.
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Von Thomas Gesterkamp
Über einen „gefühlten Generalstreik“ klagte das Hamburger Abendblatt, von „Folterwerkzeugen“ schrieb die Mediengruppe Bayern. Ende März hatten ver.di, EVG und auch der Beamtenbund beim Auftakt der dritten Tarifrunde für den öffentlichen Dienst zu einem gemeinsamen 24-stündigen Ausstand aufgerufen. Dieser legte den Nah- und Fernverkehr sowie die Flughäfen weitgehend lahm, einbezogen waren auch Schifffahrtswege und die Wartung der Autobahnen. Der Warnstreik sei „nicht verhältnismäßig“, schimpfte der Berliner Tagesspiegel; das Handelsblatt, Leitmedium der Unternehmer und ihrer Verbände, sah die Deutschen gar in „Geiselhaft“.
Nach einem eher lauen Herbst, wird jetzt die Kraft der Beschäftigten sichtbar. Ein warmer Frühling zeichnet sich ab, die Kolleg*innen sind es leid, alles mit sich machen zu lassen. Es war richtig, dass die Gewerkschaften vor Monaten im Rahmen der Konzertierten Aktion mitgearbeitet haben, um in Verhandlungen auf höchster Ebene eine Gas- und Strompreisbremse durchzusetzen.
Direkt nach dem Angriff auf die Ukraine hat die Ampelkoalition in Abstimmung mit der Europäischen Union scharfe Sanktionen gegen Russland beschlossen. Doch schon bald wurde deutlich, dass diese Strategie dem von Rohstoffimporten besonders abhängigen Deutschland mehr schadet als sie die Wirtschaft des Aggressors beeinträchtigt. Die Energiepreise kletterten zeitweise in astronomische Höhen, und sie bleiben trotz einer gewissen Beruhigung hoch. Die Inflation wurde massiv befördert, die durchschnittliche Teuerungsrate liegt bei rund acht Prozent. Bei Lebensmitteln, die im Warenkorb geringverdienender Einkommensgruppen besonders ins Gewicht fallen, sind die Preise gar um über zwanzig Prozent gestiegen.
Der aktuelle Arbeitskampf im öffentlichen Dienst zeigt die fehlende Bereitschaft der öffentlichen Arbeitgeber, ihren Bediensteten zumindest einen fairen Ausgleich für drastische Reallohnverluste zu gewähren. Das notorische Jammern über die klamme Finanzlage vieler Städte und Gemeinden ist in diesem Zusammenhang kein schlüssiges Argument. Denn Geld ist genug da, es kommt stets darauf an, wie man es verteilt. Die Bundesregierung hat gleich nach Kriegsbeginn ein „Sondervermögen“ von hundert Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr bereitgestellt. Drängelnde Forderungen aus dem Verteidigungsministerium und der Wehrbeauftragten gehen noch weit über diese Summe hinaus. Die Waffenindustrie floriert, der Aktienkurs des Panzerherstellers Rheinmetall hat sich binnen eines Jahres verdoppelt.
Zugleich weigert sich FDP-Finanzminister Christian Lindner kategorisch, über eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer, über steuerliche Änderungen bei Erbschaften oder andere Abgaben für Reiche auch nur nachzudenken. Geht es nach den Wirtschaftsliberalen, zahlen die kleinen Leute für die wachsende Staatsverschuldung, die derzeit durch steigende Zinssätze zusätzlich befördert wird. Höhere Grundfreibeträge und die Begrenzung der „kalten Progression“ bei der Einkommenssteuer gleichen die realen Verluste bei den Löhnen nur teilweise aus. Zudem ist durch die ständige Klage über leere öffentliche Kassen völlig aus dem Blick geraten, dass wegen der hohen Preise auch das Steueraufkommen des Staates deutlich wächst.
Der Unmut in der Bevölkerung über diese sozial wenig ausgewogene Politik ist mehr als verständlich. Es ist kein Zufall, dass die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ihre Mitglieder bei den Warnstreiks der letzten Wochen so gut mobilisieren konnten. Eine neue Energie, ein neues Bewusstsein der eigenen Macht kam zum Vorschein. Die Beschäftigten machen Druck, lassen sich nicht mehr alles gefallen. Prompt ging die Stimmungsmache los, die Kapitalseite trommelt im Einklang mit einem großen Teil der Medien (und beteiligt sind dabei nicht nur die ohnehin unternehmensfreundlichen) für eine Beschneidung des Streikrechts. Gemeinsam rufen sie zur „Mäßigung“ auf, wettern gegen „überzogene“ gewerkschaftliche Forderungen. Angeblich lösen diese eine „Lohn-Preis-Spirale“ aus, also noch mehr Inflation.
Bis nach Ostern haben sich die Tarifparteien auf die Einhaltung der Friedenspflicht im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens verständigt, dann geht es in die nächste Verhandlungsrunde. Ver.di, EVG und Beamtenbund sollten dabei nicht zu nachgiebig zu sein – und bei einer fortgesetzten Verweigerungshaltung der Arbeitgeber auch einen richtigen Streik riskieren, auch wenn dieser die beteiligten Gewerkschaften viel Geld kostet. Müllberge in den Straßen, geschlossene Kitas und notversorgte Krankenhäuser sind nicht übermäßig populär, sie zeigen aber Wirkung. In den vergangenen Jahrzehnten waren solche Aktionen hierzulande eine Seltenheit. Im Vergleich zur gewerkschaftlichen Militanz in Frankreich oder Italien, wo auch schon mal Betriebe besetzt oder Straßenbarrikaden errichtet werden, haben sich die deutschen Arbeitnehmerverbände meist moderat verhalten. Bei den Streiktagen pro Beschäftigten liegt die Bundesrepublik weit unter dem Durchschnitt der Industrieländer. Generalstreiks, wie bei manchen europäischen Nachbarn üblich, sind heutzutage auch gar nicht mehr nötig. In einer eher kleinteilig strukturierten Wirtschaft geht es nicht mehr sofort um das große Ganze. Ein paar kleine Nadelstiche etwa in die „systemrelevante“ Verkehrsinfrastruktur reichen völlig aus, um Macht zu demonstrieren und Druck zu erzeugen. Piloten und Lokführer haben das schon vor Jahren vorgemacht.
Wir brauchen eine andere, zugespitzere Protestkultur. Das Unwort von der „Zeitenwende“ würde hier viel besser passen als zur Rechtfertigung eines Wirtschaftskriegs oder zur Legitimation von Waffenkäufen. Besonders Mut machend und in der Öffentlichkeit wirksam, das haben die jüngsten Streiks gezeigt, sind koordinierte Aktionen der Einzelgewerkschaften über Branchengrenzen hinweg – und Kooperationen über den DGB hinaus. Die Zusammenarbeit mit dem Beamtenbund oder auch mit Nichtregierungsorganisationen wie Fridays für Future, deren Mitglieder sich mancherorts an den Protesten im Nahverkehr beteiligt haben, steigert die gewerkschaftliche Durchschlagskraft.
DGB/Heiko Sakurai
Der Gegenblende Podcast ist die Audio-Ergänzung zum Debattenmagazin. Hier sprechen wir mit Experten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitswelt, es gibt aber auch Raum für Kolumnen und Beiträge von Autorinnen und Autoren.