Die Ampelkoalition zeichnet sich ab. Wie sind die möglichen Koalitionäre aufgestellt? Wer hat neuerdings Schnittmenge mit den Gewerkschaften? Taugt die „Aktienrente“, die vor allem die FDP anpeilt? Und: Wer profitiert von Friedrich Merz? Unser Autor Peter Kern hat die Parteienlandschaft vor den Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP unter die Lupe genommen.
flickr/Rafael K., Lizenz CC BY-SA 2.0
Freund, Feind, Parteifreund, so ein Bonmot, dessen Wahrheitsgehalt Herr Laschet gerade erfahren muss. Das Hauen und Stechen, das er erleidet, dementiert die Werbung des Wahlkampfs, wollten die Christdemokraten doch als bürgerlich, gesittet und konservativ wahrgenommen werden. Des Kandidaten Problem war nicht der groß gewachsene Franke und die „Schmutzeleien“, in denen der Markus der Meister ist, sondern die Größe des Strukturumbruchs, den die CDU/CSU nicht ermessen kann.
Symptomatisch die Fehlkalkulation, die der Bundeswirtschaftsminister vor kurzem noch eingestehen musste. Beim Ausbau der Sonnen- und Windenergie hatte er eine Größenordnung angepeilt, gerade ausreichend, um die chemische Industrie des Landes auf regenerativen Strom umzustellen. Der CEO der BASF zeigte sich in einem Interview regelrecht erschüttert. Hätte einer seiner Vorstandskollegen so kalkuliert, hätte der ein echtes Problem, war aus dem Gespräch herauszuhören. Die Fehlkalkulation wurde für die CDU zum Problem. Die Aura der als nüchterne Physikerin regierenden Chefin schwand weiter dahin.
Die CDU verkennt, was es bedeutet, die energetische Basis und das erfolgreichste Produkt der deutschen Industriegesellschaft, das Automobil, völlig zu überarbeiten. Das Schweigen der CEO’s im Wahlkampf war nicht zu überhören. Pflichtgemäß kam zwar die Rückendeckung durch die Werbeabteilung der Metall- und Elektroindustrie, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, daher. Aber die Initiative propagiert einen Neoliberalismus, den ihre Auftraggeber für sich selbst völlig ablehnen. Die Unternehmer wollen ihre Geschäftspolitik von der Industriepolitik des Staates flankiert sehen. Der Staat soll sich keineswegs aus der Ökonomie heraushalten, im Gegenteil, er soll die Infrastruktur des Strukturwandels bereitstellen. Von wegen „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“; diese Phrase glauben nicht mal mehr ihre Erfinder.
Die Wählerinnen und Wähler haben der CDU die Behauptung nicht abgenommen, man habe für den Epochenumbruch das passende Personal. Eine Partei, die glaubte, Friedrich Merz für den Erfolg nötig zu haben, hat an ihren Erfolg im Ernst gar nicht mehr geglaubt. Laschet konnte in seiner Kampagne den Eindruck von Hilflosigkeit nie dementieren. Das von ihm präsentierte Zukunftsteam erwies sich als müder Einfall von Werbefritzen, die auf die Einfalt des Publikums setzten. Für jeden war etwas dabei. Für die Jungen ein Junger, für die Frauen eine Frau, fürs Thema Diversity ein Dunkelhäutiger und für die radikalisierten Mittelständler Herr Merz. Der ist jetzt endgültig ein Ritter von der traurigen Sorte geworden. Die Konkurrenten der CDU können nur hoffen, dass er weiter als Hoffnungsträger gehandelt wird.
Die Merkel-CDU war seit dem mit dem Namen Lehman Brothers verbundenen Wirtschaftskrise in weiten Teilen eine Kopie der sozialdemokratischen Partei geworden. Was der eigenen Programmatik widersprach, die massive Intervention des Staates in den krisenhaften ökonomischen Prozess, war seither ihre heimliche Agenda. Industriepolitik, Keynesianismus ist aber ein originär sozialdemokratisches Politikmuster; in den früheren Stahlrevieren weiß man davon. Die abgelaufene Wahl hat das Original wieder vor der Kopie platziert.
Die von der Transformation der Industrien gestellte Herausforderung war für CDU eine Nummer zu groß. Ihr mit der Überzeugungskraft der Gebetsmühle zu begegnen, hat nicht überzeugt. Der Epochenumbruch ist mit Phraseologie nicht zu bewältigen. Technologieoffenheit, Bürokratieabbau, schnelles Internet sind solche Phrasen. Wie viele Jahre hatte die von Frau Merkel geführte Regierung Zeit, sich den Themen zu widmen? Und nun sind zwei Krisenherde unter Kontrolle zu halten, nicht nur einer; neben die von der Pandemie schwer angeschlagene Ökonomie ist die von den Altindustrien schwer angeschlagene Ökologie getreten.
Eine krachende Niederlage: Alle der SPD gewidmeten Wahlkommentare der vergangenen Jahre fingen mit dem nun für die CDU passenden Satz an. Diese Niederlagenserie beenden wollte einmal die Non-Groko-Kampagne. Nun hat sich herausgestellt, dass es nicht schadet, in der Regierung zu sein, im Gegenteil. Nicht auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme zu sein, schadet. Diese Probleme beklagen, aber sie nicht bearbeiten zu können, wäre verheerend gewesen. Die Verzwergung der SPD wollten die Non-Groko-Strategen abwenden. Ihren Flötentönen nicht gefolgt zu sein, hat aus der Misere geführt. Die lauthals das Raus aus der Regierung propagierten, sollten eine weitere Ausbildungsschleife durchlaufen, statt sich mit einem Bundestagsmandat belohnt zu sehen.
Die Minister Scholz und Heil repräsentieren die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion, nicht die Lautsprecher der alten Kampagne. Das Scholzsche Politikangebot ist auf eine ordentliche Nachfrage getroffen. Hätte sich die Politikverweigerung der Berufsjugendlichen durchgesetzt, stünde die SPD jetzt in der Nähe des Abgrundes, in den die Linkspartei gestürzt ist. Es verhielt sich, wie es sich in großen Organisationen oft verhält: Die sich lautstark bemerkbar machen, sind nicht unbedingt in der Mehrheit.
Der SPD ist es im Unterschied zur CDU gelungen, die multikulturelle Gesellschaft mit ihrem Personalangebot abzubilden. Den türkischstämmigen Kandidaten, die spätausgesiedelte, der zweiten Generation angehörende Kandidatin auf den Wahlplakaten zu präsentieren, hat in den Großstädten sehr zum Erfolg beigetragen. Wer aus einer Emigrantenfamilie kommt (und sei der Großvater als sogenannter Gastarbeiter nach Wolfsburg gekommen), der weiß noch, was Diskriminierung ist. Der hat sie im Zweifelsfall noch am eigenen Leib erlebt, und nicht nur im soziale Ungleichheit behandelnden Soziologieseminar. Sich dem Migrantenmilieu geöffnet zu haben, bedeutet für die SPD einen Zugewinn an Realität. Denn zur Realität der bundesdeutschen Gesellschaft gehört der Rassismus, der diesem Milieu ständig entgegenschlägt.
Die Grünen werden in das vermutlich zustande kommende Dreierbündnis anders gehen als sie in das alte Zweierbündnis mit der SPD gegangen sind. Zu Zeiten von Fischer und Fischerman‘s Friends hatte man zu zwei gesellschaftlichen Akteuren gar keinen organisierten Kontakt, weder zu den Gewerkschaften noch zu den Unternehmern. Das hat sich geändert, was auch den Grünen einen Zuwachs an Realitätssinn gebracht hat. Ihnen das Etikett Lehrerpartei anzuheften, gelingt nicht mehr. Dass ein Herr Kaeser, Ex-CEO der Siemens AG sie unterstützt, der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, Energiewende und Elektromobilität als das Projekt seiner Gewerkschaft sieht, hat der Öko-Partei sehr geholfen.
Die von Gerhard Schröder favorisierte Koch-Kellner-Hierarchie wird nicht noch einmal funktionieren. Ihm hat das von der BILD-Zeitung angeheftete Etikett Autokanzler damals sehr gefallen. Auf Willy Brands Mehr Demokratie wagen, folgte Mehr Volkswagen. Aber die heutige SPD hat mit der Schröder-SPD nicht mehr viel gemein. Die Nonchalance des Altkanzlers wird im spröden Scholz wohl keine Fortsetzung finden. Und die bundesdeutsche Gesellschaft lässt sich von Springers Spin Doktoren auch nicht mehr so leicht einseifen. Scholz hat als Finanzminister des alten Kabinetts eine nachfrageorientierte Politik gemacht, zu der es keine Alternative gibt. Das TINA-Prinzip (There is no alternative) hat das Vorzeichen gewechselt.
Die Ampelkoalition zeichnet sich ab. Wie macht man mit Herrn Lindner das versprochene Green New Deal? Ist der geplante Einstieg in die „Aktienrente“, in die Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente, Teil dieses Deals? 10 Milliarden Euro will man „in einem ersten Schritt“ auf dem Kapitalmarkt anlegen. Auf den Finanzmärkten sucht etwa fünfzig Mal mehr Geld nach Verwertung, als welches in Produktionsprozessen steckt. Die bald spruchreife Koalition rechnet auf eine lukrative Geldanlage; dass sie einen Beitrag zu einer vielleicht platzenden Blase leistet, damit rechnet sie nicht. Der FDP-Chef hat in seinem Wahlkampf wahre Wunder versprochen. Den vielen Jungwählern, die den smarten Herrn mit der neuen Bartmode gewählt haben, müsste jetzt schonend beigebracht werden, dass sich Startups nicht wie die Kaninchen aus dem Zylinder zaubern lassen.
Eine tragische Figur gibt nach der Wahl die Linkspartei ab. Der Parteiflügel um Frau Wissler hat die Realos um Bartsch nicht zum Zug kommen lassen, mit dem Effekt, dass die Bundespartei zu einer zu vernachlässigenden Größe geworden ist. Ihren drei Direktmandaten hat sie es zu verdanken, dass sie die parlamentarische Bühne, auf der sie groß aufspielen wollte, nicht ganz verlassen muss. Die Politikfähigkeit, die sie in Länderparlamenten beweist, geht ihr im Bund ab. Die sich mit Alleinvertretungsanspruch Die Linke nennt, hätte es als ihre Aufgabe begreifen müssen, die minder qualifizierten Industriebelegschaften vor der rechten Versuchung zu bewahren, indem sie in einem rot-rot-grünen Kabinett mit dafür Sorge getragen hätte, dass Lohnarbeit nicht als archaisches Überbleibsel betrachtet wird und die sie Leistenden nicht als verlorene Klasse. Hätte, hätte – Parteipolitik wird nicht im Konjunktur gemacht. Niemand braucht eine Partei, die auf Bundesebene keine sein will, sondern auf ewig eine NGO, eine Nichtregierungsorganisation.
DGB/Heiko Sakurai
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