Deutscher Gewerkschaftsbund

09.06.2022
Atlas der digitalen Arbeit 2022

Mitbestimmung: Betriebsräte mit neuer Macht

Beschäftigte können die Digitalisierung im Betrieb beeinflussen. Besonders in großen und mittelständischen Unternehmen sind die Betriebsräte gefordert.

Gruppe junger Menschen stehen lachend im Kreis und legen ihre Hände aufeinander

DGB/rawpixel/123rf.com

Die betriebliche Mitbestimmung hat in Deutschland eine lange Tradition. Als in Sachsen und Preußen die ersten Beschäftigten für demokratische Teilhabe kämpften, war nicht einmal das Telefon erfunden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gehen die Ursprünge des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) zurück, das 1952 in der Bundesrepublik in Kraft trat und bis heute gilt. Es bildet die rechtliche Grundlage für die Betriebsräte, die in privatwirtschaftlichen Unternehmen ab einer Größe von fünf Beschäftigten gegründet werden dürfen und über Einstellungen und Versetzungen, Arbeitszeiten oder Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung mitentscheiden.

Betriebsverfassungsgesetz an neue Arbeitswelt anpassen

Ziel der jüngsten Reform des Gesetzes vom Juni 2021 war ausdrücklich, das Gesetz den Erfordernissen der neuen Arbeitswelt anzupassen. Gewerkschaften und Arbeitnehmer*innenvertretungen halten sie für teilweise gelungen. Die Digitalisierung berührt die Mitbestimmungsrechte der Belegschaften an Stellen, die noch vor zehn Jahren nicht vorstellbar waren.

Grafik: Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat in West- und Ostdeutschland

Seit etwa 2018 nimmt der Einfluss von Betriebsräten wieder zu, vor allem in ostdeutschen Mittel- und Großbetrieben. Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

Erstes Beispiel: Die Geschäftsführung eines Konzerns kauft für die Personalabteilung eine Software, die in ihren Einstellungsverfahren eine Vorauswahl unter Bewerbungen trifft. Damit greift sie in die Befugnisse des Betriebsrats ein. Laut § 99 BetrVG muss er über eine Einstellung informiert werden und ihr zustimmen. Um das seriös tun zu können, muss der Betriebsrat wissen, wie die Software arbeitet, also nach welchen Kriterien sie ausgewählt hat. Schließlich könnte sie diskriminierende – und damit unerlaubte – Kriterien an die Bewerbungen anlegen und sie etwa nach Geschlecht oder Alter sortieren. Seit der Reform des BetrVG kann sich der Betriebsrat hier von Sachverständigen informieren lassen, die der Arbeitgeber finanziert. Sie erleichtert dem Betriebsrat den Zugang zu ihrer Expertise, um die Folgen künstlicher Intelligenz für die Beschäftigten beurteilen zu können.

Neue Technologien: nicht zwangsläufig durch Betriebsrat zustimmungspflichtig 

Zweites Beispiel: Ein Versandhandelsunternehmen führt Roboter ein, die Beschäftigten in Logistikzentren helfen, Waren in Regalsystemen aufzufinden. Weil die künstliche Intelligenz eine Schnittstelle zu den Mitarbeiter*innen aufweist, kann sie Daten etwa über deren Schnelligkeit sammeln. § 87 BetrVG schreibt zwar vor, dass technische Einrichtungen, mit denen die Leistungen von Beschäftigten überwacht werden können, der Zustimmung des Betriebsrats bedürfen. Die Roboter in der Lagerhalle werden aber nicht der Kontrolle wegen eingesetzt, sondern sie sind nur dazu geeignet. Nach jetzigem Gesetzestext sind sie nicht zustimmungspflichtig. Hier besteht Nachholbedarf.

 

Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat nach Branchen

Betriebsräte sind in einigen Branchen der Schlüssel dafür, dass die Qualifizierung der Beschäftigten nicht in schlechtere Arbeitsbedingungen mündet. Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

In den kommenden Jahrzehnten werden bestimmte Arbeiten durch künstliche Intelligenz und Roboter ersetzt, neue Schnittstellen zwischen Mensch und Technik geschaffen. Für die betroffenen Beschäftigten bedeutet dies, dass ihre Arbeitsplätze wegfallen, ihre Tätigkeit sich verändert oder verlagert. Dies hat Qualifizierung und Weiterbildung ins Zentrum der Aufmerksamkeit von Arbeitgebern wie Belegschaftsvertretungen gerückt. Neben Betriebsvereinbarungen wird dies auch in Rahmenabkommen mit Unternehmen geregelt, die den Veränderungsprozess gemeinsam mit ihren Beschäftigten gestalten und dazu Abkommen abschließen. So haben etwa der Konsumgüterkonzern Unilever 2019 in seinem europäischen und der belgische Chemiekonzern Solvay 2020 in seinem globalen Rahmenabkommen die grundlegende Bedeutung von Weiterbildungen, Umschulungen und lebenslangem Lernen betont und auch begleitende Maßnahmen entwickelt.

In Deutschland hat der Gesetzgeber die Betriebsräte in Sachen Qualifizierung und Weiterbildung zwar gestärkt. Sie können in bestimmten Fällen eine Einigungsstelle – angesiedelt etwa an einem Arbeitsgericht – anrufen, wenn sie mit Maßnahmen nicht einverstanden sind. Einen Einigungszwang gibt es dabei allerdings auch künftig nicht. Am Ende entscheidet weiter der Arbeitgeber darüber, wer welche Qualifizierungsmaßnahme erhält.

 

Grafik: Anteil der Unternehmen, die seit Beginn der Pandemie in digitale Technologien investiert hat

Je größer ein Betrieb ist, desto eher hat er einen Betriebsrat – und umso stärker wird er von der Digitalisierung geprägt, besonders in Corona-Zeiten. Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

Allerdings: Nur 42 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 35 Prozent in Ostdeutschland arbeiten überhaupt in Betrieben mit einem Betriebsrat. Eine neue Herausforderung für die Mitbestimmung sind Unternehmen der Plattformökonomie, etwa Lieferdienste oder Reinigungsfirmen ohne feste Betriebsstätten. Arbeitsverträge werden online heruntergeladen, Arbeitsmaterialien per Post zugestellt und Arbeitseinsätze per App verabredet. Die traditionellen Orte der Mitbestimmung vom Betriebsratsbüro bis zum Schwarzen Brett fehlen. Eine nächste Reform des Betriebsverfassungsgesetzes könnte sich etwa mit Online-Betriebsratswahlen befassen. Zudem soll es Beschäftigten erleichtert werden, Betriebsräte zu gründen und jene Mitarbeiter*innen vor Kündigung und Repressalien zu schützen, die sich für die Gründung eines Betriebsrates engagieren.

Um das Gesetz an die Herausforderungen der Digitalisierung anzupassen, wurden die Grundlagen der Betriebsratsarbeit bereits reformiert. Angestoßen von der besonderen Situation während der Coronapandemie erlaubt es § 30 nun, Betriebsratssitzungen auch als Video- und Telefonkonferenzen abzuhalten und Beschlüsse online zu fassen. Die technische Infrastruktur dafür muss der Arbeitgeber bereitstellen. Erfinden muss er das Telefon dafür ja zum Glück nicht mehr.


Nach oben

Kurzprofil

Heike Holdinghausen
Heike Holdinghausen ist Redakteurin der taz für Wirtschaft und Umwelt und schreibt als freie Autorin vor allem über Kreislaufwirtschaft und Rohstoffthemen.
» Zum Kurzprofil

Jetzt downloaden: Atlas der digitalen Arbeit

Cover des Atlas der digitalen Arbeit

DGB

DOWNLOAD UND BESTELLUNG

Sie können den Atlas der Arbeit hier als PDF herunterladen.

Sie können den Atlas außerdem hier in der gedruckten Version bestellen.

Der Atlas der digitalen Arbeit ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS).