Deutscher Gewerkschaftsbund

21.06.2022
Atlas der digitalen Arbeit 2022

Auto: Endlich die richtigen Fragen

Lange galt für die Autobranche, sie verweigere sich jeder elektromobilen Zukunft. Das hat sich in kürzester Zeit geändert. Dies schützt auch die Belegschaften davor, von der Entwicklung überrollt zu werden.

Arbeiter in Produktionshalle Automobilbau

DGB/habrda/123rf.com

Die Automobilindustrie ist eine der wichtigsten Branchen in Deutschland, sei es im Hinblick auf Beschäftigung, Wertschöpfung, Forschungsausgaben oder auch Investitionen. Sie sichert rund 2,2 Millionen Arbeitsplätze hierzulande. Doch die Zeit der Rekorde scheint vorbei zu sein. Bereits 2019 verlor die Branche 11.000 Arbeitsplätze. Im Schatten der Coronapandemie äußern Arbeitgeber weitere Pläne, Stellen abzubauen, Standorte zu schließen oder zu verlagern, getrieben von der massiven Transformation durch die Dekarbonisierung – also die Reduktion der kohlenstoffhaltigen Treibstoffe – und durch die Digitalisierung.

Automobilindustrie im Wandel: Ausstieg aus Verbrennertechnologie

Um Vorgaben der Klimapolitik und EU-Flottengrenzwerten gerecht zu werden, setzt die Branche vor allem auf die Elektrifizierung des Antriebsstrangs, also die Komponenten, die ein Auto antreiben – unter anderem Motor, Kupplung, Getriebe und die Antriebswelle. Nach jahrelangen Diskussionen über verschiedene CO2-neutrale Konzepte stehen die rein batterieelektrischen Fahrzeuge (BEV) im Vordergrund. Fast alle Automobilhersteller kündigten ein Datum an, wann sie aus der Verbrennertechnologie aussteigen wollen. 2021 betrug der BEV-Anteil an den Neuzulassungen bereits 13,6 Prozent.

Die Elektrifizierung im Mobilitätssektor kann einen deutlichen Abbau der Beschäftigten zur Folge haben. Zu diesem Schluss kommt die Mehrheit aller relevanten Studien. In die Weiterentwicklung konventioneller Antriebe wird bereits deutlich weniger investiert. Das hat Folgen: Schon jetzt wird in den Entwicklungsabteilungen der Zulieferer, bei Entwicklungsdienstleistern, bei antriebsstrangabhängigen Ausrüstern und beim Werkzeugmaschinenbau Personal abgebaut. Zusätzlich könnten Arbeitsplätze verloren gehen, sollten noch mehr Teile der Produktion an kostengünstigere Standorte verlagert werden und zentrale Komponenten der Elektromobilität wie Batteriezellen weiter zu einem großen Anteil aus Asien bezogen werden.

Beschäftigungspolitisch könnte das künftig zumindest teilweise ausgeglichen werden: durch die Ansiedlung großer Teile der neuen Speicher- und Steuerungstechnologien für E-Mobilität, durch den Aufbau eigener Batterie- und Halbleiterproduktionen, durch den Ausbau von Ladeinfrastruktur und erneuerbarer Energien und durch die mobilitätsnahe Kreislaufwirtschaft. Bislang ist die Produktion der neuen Komponenten (Elektromotoren, Leistungselektronik und Batterien) allerdings weniger stark in Deutschland präsent als die der konventionellen Antriebstechnik.

Grafik: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte der deutschen Pkw- und Lkw-Hersteller

Die Trendumkehr setzte vorher ein, Corona beschleunigte zusätzlich: Der Beschäftigungsrückgang betrifft vor allem den Bereich Kfz und -Motoren. Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

Es steht ein gewaltiger Umbau für die Beschäftigten an. Tätigkeiten und Anforderungs- wie Qualifizierungsprofile ändern sich erheblich. So könnten die auf Mechanik spezialisierten Entwicklungsingenieur*innen zu Data Scientists werden. Dieser nicht einfache Weg wird von Weiterbildungen, Zweitausbildungen und -studien begleitet sein müssen. Hierfür sind nicht nur Angebote und Beratung nötig – für die Beschäftigten werden vor allem die Faktoren Zeit und Geld entscheidend sein. Sie brauchen die Gewähr, dass es einen Lohnersatz gibt und die Kosten für die Weiterbildung übernommen werden.

Zuliefererbetriebe: Wirtschafltliche Stabilität für ganze Regionen

Betroffen sind vor allem Zulieferbetriebe, die an zweiter, dritter und vierter Stelle der Wertschöpfungskette stehen, häufig mit geringer Eigenkapitaldecke – und die zugleich aber für die wirtschaftliche Stabilität ganzer Regionen entscheidend sind. Bis zu 70 Prozent der Wertschöpfung im Fahrzeugbau erfolgt bei den Zulieferern. In Deutschland gibt es derzeit rund 3.000 Automobilzulieferbetriebe aus unterschiedlichen Branchen, von der Metallindustrie über die Kunststoffverarbeitung bis zur Elektrotechnik. Sie müssen sich heute fragen, wie sie ihre Fähigkeiten, ihre Anlagen und Produktionsprozesse morgen nutzen können. Zulieferer suchen nach neuen Märkten, Geschäftsmodellen und Produkten, etwa im Bereich der Medizintechnik oder der Energiewirtschaft.

In regionalen Transformationsnetzwerken und -projekten wird es daher auch darum gehen, die neuen Entwicklungen zu fördern: Halbleiterarchitekturen, KI-basierte Komponenten, Produktionsmethoden in der Wertschöpfungskette von Batterien und Brennstoffzellen oder Verfahren und Anlagen zur kreislauffähigen Produktion. Mit den Beteiligten vor Ort – von der regionalen Bundesagentur für Arbeit über die Industrie- und Handwerkskammern, Gewerkschaften und Betriebsräte bis zu Hochschulen, Universitäten und impulsgebenden Start-ups – können Antworten auf die vielfältigen Leitfragen gesucht werden: Welche Produkte können wir herstellen? Welche Vorstellungen und Modelle von Energieerzeugung und Mobilität etablieren? Wie schaffen wir es, Wertschöpfungs- und Lieferketten sinnvoll zu organisieren? Und wie sollten die Beschäftigten in diesem Umbau unterstützt werden?

Grafik: Weltweiter Anteil reiner Elektrofahrzeuge steigt bis 2030 auf bis zu 40%

Auch die europäische Automobilindustrie stellt sich auf Elektromobilität ein. Bis 2030 könnten nur noch 40% der Automobile einen Verbrennungsmotor haben. Zur Sicherung von Arbeitsplätzen müssen sich auch Zulieferer darauf einstellen und fragen, wie sie ihre Fähigkeiten, Anlagen und Produktionsprozesse morgen nutzen können. LBBW Research / IMU Institut

Nicht nur die Elektrifizierung des Antriebsstrangs fordert die Automobilindustrie heraus. IT-Unternehmen wie Apple und Google drängen auf den Markt. Die Entwicklung von Software ist dabei auch jenseits des Betriebssystems enorm bedeutend. Dazu gehören Steuerungssysteme, autonomes Fahren sowie die Vernetzung von Mobilitätsträgern und Mobilitätsleitsystemen.

Transformation mit Nachdruck gestalten

Der Wandel schafft neue Konkurrenzen innerhalb der Automobilindustrie. Prominentestes Beispiel ist Tesla, nun auch mit einem Standort im brandenburgischen Grünheide nahe Berlin. Hersteller werden zu Mobilitätsanbietern, große Unternehmen wollen die Wertschöpfung im Bereich Digitalisierung ins eigene Haus integrieren. Kurzum: Die nächsten Jahre werden herausfordernd. Politik und Unternehmen sind gleichermaßen gefragt, die Transformation der Automobilindustrie mit Nachdruck zu gestalten.


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Kurzprofil

Dr. Jürgen Dispan
Dr. Jürgen Dispan ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter beim IMU Institut in Stuttgart. Seine Arbeitsschwerpunkte im Bereich der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung sind Branchenanalysen, Regionalstudien, Strategieprojekte sowie die Transformation von Arbeitswelt und Wirtschaft.
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Sylvia Stieler
Sylvia Stieler ist Sozialwissenschaftlerin im IMU Institut und forscht insbesondere zur Transformation in der Automobilindustrie und deren Konsequenzen für die Beschäftigten. Außerdem berät und schult sie Betriebsräte und Betriebsrätinnen zu Personalentwicklung, Qualifizierung und Arbeitszeit.
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