Deutscher Gewerkschaftsbund

19.05.2022
Atlas der digitalen Arbeit 2022

Gute Arbeit: Das Gebot ist Mitgestaltung

Der jährliche DGB-Index „Gute Arbeit“ erfasst, wie sich Erwerbsarbeit verändert. Die jüngste Ausgabe zeigt: Auch bei der Digitalisierung gelingt dies am besten, wenn die Betroffenen zu Beteiligten werden.

Digitale Arbeit Symbolbild: Roboterhand schüttelt Menschenhand

DGB / Simone M. Neumann

Arbeit soll nicht krank machen, sicher sein und eine ausgeglichene Work-Life-Balance ermöglichen. Dazu gehören definierte Arbeitszeiten. Das Arbeitszeitgesetz schreibt deshalb eine allgemeine Obergrenze von acht Stunden täglich ebenso vor wie angemessene Pausen und Ruhephasen. Zahlreiche Studien belegen, dass längere Arbeitszeiten der Gesundheit erheblich schaden können. Auch der Verzicht auf Pausen und die Beeinträchtigung von Ruhephasen können Beschäftigte krank machen.

Digitale Arbeit: Starke Zunahme während Pandemie

Mit der Digitalisierung der Arbeit gerät die Arbeitszeit unter Druck. Beschäftigte können, gestützt auf Smartphone, Tablet oder Laptop, grundsätzlich überall und zu jeder Uhrzeit arbeiten. Arbeit wird zeitlich und räumlich entgrenzt. Die Erwartung, mit der Digitalisierung erhielten die Beschäftigten mehr Arbeitszeitsouveränität, erfüllt sich dabei oft nicht.

Eine repräsentative Befragung für den DGB-Index „Gute Arbeit 2021“ zeigt, dass die digitalisierte Arbeit während der Coronapandemie stark zugenommen hat. Innerhalb kurzer Zeit wurde knapp die Hälfte aller Beschäftigten von den Unternehmen mit neuer Software oder neuen Apps ausgestattet. Jede oder jeder Vierte arbeitete mit neuen digitalen Geräten. Häufig handelte es sich um Arbeitsmittel für Videokonferenzen, Kommunikation und Kollaboration, mit denen die Arbeit auch „auf Distanz“ aufrechterhalten werden konnte. Die Art der Zusammenarbeit veränderte sich in großem Maßstab: Etwa 60 Prozent der Beschäftigten ersetzten direkte persönliche Kontakte im Betrieb zumindest teilweise durch digitale Kommunikation. Mehr als 40 Prozent taten dies in (sehr) hohem Maße.

Motoren der Digitalisierung sind die vier großen EU-Mitglieder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien nicht. Kleinere Staaten gehen voran

Der Anstieg ist langsam und stetig – in den letzten zehn Jahren hat sich die Qualität der Arbeit in allen Bereichen verbessert DGB/Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

Diese Entwicklung hat die Arbeitssituation häufig nicht verbessert. Weniger als zehn Prozent der Befragten gaben an, dass sie entlastet wurden. Mehr als jede*r Dritte fühlte sich sogar stärker unter Druck. Das galt vor allem dann, wenn die Beschäftigten nicht für die neue Software geschult wurden, es keine technische Unterstützung gab oder die eigene Wohnung für die Arbeit nicht geeignet war. Für 57 Prozent hat sich durch das Homeoffice nichts verändert – aber damit auch nichts verbessert.

Weniger Pausen und oft entgrenzte Arbeitszeiten

Wie sieht es mit den Arbeitszeiten bei der digitalen Arbeit aus? In dieser Gruppe, die das „neue Normal“ der Arbeitswelt verkörpert, zeigt sich ein auffälliger Widerspruch. Einerseits berichten digital und mobil arbeitende Beschäftigte häufiger, dass sie ihre Arbeitszeit selbst einteilen können, andererseits klagen sie auch öfter über belastende und entgrenzte Arbeitszeiten.

Die größere Selbstbestimmung dieser Gruppe geht nicht automatisch mit Arbeitszeiten einher, die die Gesundheit fördern oder dem Familienleben guttun. Im Gegenteil: Ständige Erreichbarkeit, unbezahlte Arbeit und überlange Wochenarbeitszeiten von mehr als 48 Stunden sind hier üblicher als bei denen, die überwiegend im Betrieb und weniger digitalisiert arbeiten. Mobile Beschäftigte verkürzen auch häufiger ihre Pausen und Ruhezeiten. Das wirkt sich auf die Freizeit aus: Knapp die Hälfte der „digital Mobilen“ kann nach der Arbeit nicht gut abschalten.

Grafik aus Atlas der digitalen Arbeit

Digitalisierung kann Beschäftigte überfordern. Aber auch wer mit ihr beruflich wenig in Kontakt kommt, droht abgehängt zu werden DGB/Bartz/Stockmar, CC BY 4.0

Die Arbeitswelt im digitalen Kapitalismus ist in vielen Wirtschaftsbereichen durch einen scharfen Konkurrenz- und Kostendruck gekennzeichnet. Restrukturierungen und Personalabbau schlagen auf die Arbeitsbedingungen durch. Arbeitsverdichtung sowie ein starker Termin- und Leistungsdruck sind für viele Beschäftigte an der Tagesordnung. Unter diesen Vorzeichen sind die Potenziale für mehr Arbeitszeitsouveränität, die die digitale Technik mit sich bringt, schwer zu realisieren.

Flexible Arbeitsmodelle: Gewerkschaften und Arbeitgeber sind gefragt

Entsprechend steigt der Bedarf an einer arbeitspolitischen Gestaltung der digitalen Arbeit. In Portugal hat die Regierung bereits 2021 ein umfassendes Homeoffice-Gesetz verabschiedet, das unter anderem die Erreichbarkeit streng regelt. Verstöße können mit einem hohen Bußgeld belegt werden. Die Arbeitgeber haben zudem für eine adäquate Ausstattung zu sorgen. In Deutschland nehmen bisher vor allem Betriebsräte die Regulierung in die Hand. So hat Siemens eine Betriebsvereinbarung geschlossen, die ausdrücklich Zeiten einschließt, in denen die Mitarbeiter*innen nicht erreichbar sind. Bei dem Energiedienstleister GETEC Group können die Beschäftigten dank einer Betriebsvereinbarung ihre Arbeitszeit über eine App steuern, innerhalb klarer Grenzen: Die Arbeitszeit liegt zwischen 6 und 20 Uhr, Ruhezeiten werden eingehalten, Plusstunden werden gesammelt und abgebaut.

Grafik zeigt Folgen der digitalen Kommunikation: 35 Prozent der Befragten in einer Umfrage von 2021 sehen sie als mehr belastend an

Viele Beschäftigte finden, dass die digitale Kommunikation mit den Kolleg*innen etwa per Videokonferenz die Arbeitsbelastung eher vergrößert DGB

Die Ampelkoalition hat sich das Thema ebenfalls vorgenommen. An dem gesetzlichen Grundsatz des Achtstundentages will sie ausdrücklich nicht rütteln. Allerdings sollen Gewerkschaften und Arbeitgeber gemeinsam flexible Modelle erarbeiten dürfen, auch mit anderen Arbeitszeiten pro Tag. Diese und alle anderen Ideen aber haben aus Sicht der Gewerkschaft eine grundlegende Bedingung: Sie sind nur mit oder auf Basis eines Tarifvertrags zu haben.


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Kurzprofil

Rolf Schmucker
ist promovierter Sozialwissenschaftler und leitet das Institut DGB-Index Gute Arbeit in Berlin. Mit der jährlichen Repräsentativumfrage des Instituts werden Daten zur Qualität der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in Deutschland gewonnen.
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Der Atlas der digitalen Arbeit ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS).