Deutscher Gewerkschaftsbund

Atlas der digitalen Arbeit 2022

Die Lage: alte und neue Stärken

Trends in der digitalen Transformation

Die Trends in der digitalen Transformation von Unternehmen und Wirtschaft sind deutlich zu erkennen. Damit zeichnet sich auch ab, wie das deutsche Produktions- und Sozialmodell reagieren kann.

Atlas der Arbeit Coverbild

Informationsökonomie in der Industrie: Maschinen werden nicht nur digital bedient. Sie liefern Daten und steuern selbst. DGB/Simone M. Neumann

Bisher ging es bei den Debatten in der Gesellschaft und den Gewerkschaften um die Digitalisierung in Deutschland vor allem um die Probleme der Automatisierung, der Kontrolle durch Daten und der Arbeitsplatzverluste. Weniger im Zentrum stand die Tatsache, dass sich die Wirtschaft zu einer „Informationsökonomie“ gewandelt und das Internet sich als mächtige Infrastruktur und Basis eines neuartigen sozialen Handlungsraums etabliert hat.

Tech-Konzerne schlagen Brücke in Industrie- und Dinstleistungssektoren

In über zwei Jahrzehnten haben die Tech-Unternehmen des Silicon Valley gelernt, diesen Informationsraum ökonomisch zu nutzen. Sie haben eine Wertschöpfung aufgebaut, die auf Daten und Informationen beruht und über den Informationsraum orchestriert wird. Das Internet ist nicht mehr nur ein Daten-Highway, sondern ein neuer sozialer Handlungsraum, in dem Menschen interagieren.

Ausgehend vom Internet und den darauf aufbauenden Technologien schlagen die Tech-Konzerne nun eine Brücke
in die industriellen Kerne und die Zentren des Dienstleistungssektors. Maschinen, vom Auto bis zum Industrieroboter, werden nicht nur digital gesteuert, sondern sie liefern auch Daten und steuern selbst. Plattformen wie Amazon und andere Lieferservices verändern ganze Wertschöpfungsketten.

Digitaler Wandel: Erfolgsrezepte stehen auf dem Prüfstand

Dies verändert die globalen Wettbewerbsstrukturen. Wichtig ist nicht mehr nur, wo und mit welchen Kosten produziert wird, sondern welche digitale Infrastruktur wie genutzt wird. Nach einer langen Phase der schrittweisen Innovation unterliegen die Kernbereiche der Wirtschaft in Deutschland zunehmend einer disruptiven Dynamik – Geschwindigkeit und Umfang der Veränderungen
nehmen ständig zu. Gewachsene und über Jahrzehnte eingeübte Erfolgsrezepte stehen auf dem Prüfstand. Die Ansiedelung der Gigafactory von Tesla in Brandenburg macht die Brisanz dieser Entwicklung sichtbar. Das Unternehmen baut nicht einfach ein Auto. Es konzentriert sich darauf, wie dieses Auto in der Praxis genutzt wird. Dazu werden Auto und Internet als Einheit konzipiert. Die Wertschöpfung wird von den Daten und Informationen der Kund*innen her gedacht: Fahren sie meist in der Stadt oder weite Strecken? Was heißt das für das Fahrzeug, für die Batterie? Kann es anhand dieser Informationen besser konfiguriert werden?

Motoren der Digitalisierung sind die vier großen EU-Mitglieder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien nicht. Kleinere Staaten gehen voran

Motoren der Digitalisierung sind die vier großen EU-Mitglieder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien nicht. Kleinere Staaten gehen voran DGB

Das deutsche Produktions- und Sozialmodell steht damit vor einer historischen Herausforderung. Können deutsche Unternehmen mithalten? Der Weg der Startups aus dem Silicon Valley ist ihnen verschlossen. Sie beginnen nicht „auf der grünen Wiese“, sondern sind gewachsene Unternehmen, die über viele Jahrzehnte eigene Abläufe, aber auch Belegschaften, Kulturen und Sozialbeziehungen gebildet und geformt haben. Wer hier erfolgreich sein will, kann nicht blind dem Gebot der Disruption folgen und gar das eigene Fundament zerstören, um zu ganz neuen Produkten zu kommen. Vielmehr gilt es, die eigenen Stärken zum Ausgangspunkt einer nachhaltigen Neuerfindung zu machen.

Beschäftigten als Entwickler neuer Geschäftsmodelle nutzen

Dafür braucht es die Menschen in den Betrieben als Treiber und Gestalter des Wandels – und eine neue Qualität von Beteiligung und Empowerment auf allen Ebenen. Wer, wenn nicht die Beschäftigten selbst, sollen neue Geschäftsmodelle entwickeln, Produkte neu denken und andere Innovationskulturen ins Leben rufen? Es gibt bereits gute Beispiele, in denen Werker*innen neue Anwendungen für KI-gestützte Roboter entwickelt oder Sachbearbeiter*innen das „Training“ von Chat-Bots übernommen haben.

Gebraucht wird in Deutschland eine neue und nach vorn gerichtete Orientierung, die den Beschäftigten Vertrauen vermittelt. Sie muss mehr sein als eine den ökonomischen und technologischen Sachzwängen geschuldete Überlebensstrategie. Leiten könnte die Vision, die digitale Transformation mit ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zu verknüpfen. Beschäftigungssicherung und „Gute Arbeit“ würden so zu Leitplanken der Transformation.

Grafik aus Atlas der digitalen Arbeit

Von Vorzeigebranchen abgesehen, gibt es in weiten Teilen der Wirtschaft noch deutlichen Nachholbedarf bei der jüngsten Welle der Modernisierung DGB

Grundlage dafür sind agile Arbeitsformen: Beteiligung der Beschäftigten, Offenheit für Veränderungen selbst in Umbauprozessen, Fehlerakzeptanz. Sie werden derzeit in vielen Unternehmen eingeführt und könnten neue Impulse für die Emanzipation, die Demokratisierung von Unternehmen und eine Neuauflage der Humanisierung von Arbeit eröffnen. Eine menschengerechte Arbeitswelt und ein am Prinzip der Nachhaltigkeit ausgerichteter Transformationsprozess wären für die deutsche Wirtschaft insgesamt von großem Wert. Aus einem vermeintlichen Auslaufmodell, das sich in einem aussichtslosen Abwehrkampf gegen das Neue befindet, würde ein Ringen um die Zukunft, um eine Chance für die Neuausrichtung der Arbeitswelt und der Gesellschaft insgesamt.

Mitbestimmung als Basis für erfolgreichen Transformationsprozess

Auch die Mitbestimmung erscheint so in neuem Licht. Mit dem Fokus auf Nachhaltigkeit ließe sie sich kaum als „Relikt vergangener Zeiten“ und als „Bremse“ auf dem Weg in die Informationsökonomie diskreditieren. Vielmehr sind damit der auf Ausgleich zielende Umgang der Sozialparteien miteinander, das Schaffen von Regularien und stabilen Vereinbarungen, die Verpflichtung der Unternehmen zu Sozialverträglichkeit und die Wohlfahrt der Gesellschaft nicht mehr nur Teil, sondern Basis für einen erfolgreichen Transformationsprozess – weil es auf die Beschäftigten und ihre Mitwirkung ankommt.

Aus diesem Grund dürfen die Fehler der alten Diskussion über die New Economy um das Jahr 2000 herum nicht wiederholt werden. Damals wurden Selbstbestimmung und Mitbestimmung in einen falschen Gegensatz gebracht. Mitbestimmung der Beschäftigten galt als Hemmnis für die Selbstbestimmung der neuen Unternehmen. Die Erfordernisse der Transformation der Wirtschaft zeigen jedoch, dass es nicht um Selbstbestimmung oder Mitbestimmung geht. Zur Erfolgsformel in diesem Umbruch könnte vielmehr werden: Selbstbestimmung durch Mitbestimmung.


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Kurzprofil

Prof. Dr. Andreas Boes
ist außerplanmäßiger Professor an der TU Darmstadt, Mitglied des Vorstandes des ISF München und Direktor des neu gegründeten Bayerischen Forschungsinstituts für Digitale Transformation (BIDT). Er forscht aktuell zu den Herausforderungen des Übergangs zur Informationsökonomie und den Erfolgsbedingungen einer humanen Gestaltung dieser Entwicklung.
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PD Dr. Tobias Kämpf
ist Wissenschaftler am ISF München und Privatdozent an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Als Soziologe forscht er international zur Digitalisierung und dem Wandel moderner Arbeitsgesellschaften.
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Der Atlas der digitalen Arbeit ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS).